Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa

Autor*in
Reckinger, Gill
ISBN
978-3-7795-0590-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
231
Verlag
Peter Hammer Verlag
Gattung
Taschenbuch
Ort
Wuppertal
Jahr
2018
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
24,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Ob man überhaupt noch Orangen mit Genuss essen kann, wenn man diese Reportage über die sklavenähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen afrikanischer Migranten in Italiens südlichen Orangenanbaugebieten gelesen hat? Den Autor dieser aufrüttelnden Dokumentation jedenfalls befällt immer eine tiefe Scham, wenn er sein gesichertes, fast privilegiertes Leben mit dem recht- und perspektivlosen Leben der Afrikaner in slumähnlichen Verhältnissen vergleicht.

Beurteilungstext

Reckinger begibt sich in diesen erschütternden Reportagen in den Jahren 2012 bis 2014 in die Stiefelspitze Italiens, nach Kalabrien und Apulien. Nachdem er für sein erstes Buch „Lampedusa“ vor Ort geforscht und erkundet hat, wie es den überlebenden Flüchtlingen auf dieser felsigen kleinen Insel – einem Ort des Übergangs – ergangen ist, erkundet er nun vor allem in Rosarno, einem kleinen Ort im Herzen des italienischen Orangenanbaus, was aus den meist jungen Männern geworden ist, nachdem sie Lampedusa verlassen haben. Schnell muss er feststellen, dass für viele Rosarno ein „Point of no return“ (S. 58) geworden ist. Wo z.B. Männer wie Kwame oder Benedict aus Ghana, Thomas und Amadou aus Burkina Faso und viele mehr unter extremen Bedingungen als ausgebeutete Saisonarbeiter auf der untersten Stufe der Hierarchie der Unterdrückten (als „Schwarze“ noch unter den südosteuropäischen Erntehelfern, die meist auch die Vorarbeiter stellen) leben. Sie hausen in elenden Hütten, Zelten oder ergattern im besten Fall einem Schlafplatz in einem winzigen Zimmer bei Freunden. Reckinger nennt dieses System der „ökonomischen Verfügbarmachung entrechteter Migranten“ „zeitgenössische Sklaverei“ und die Straße, auf der sich jeden Morgen bei jedem Wetter die Männer auf der Suche der Arbeit auf klapprigen Fahrrädern oder zu Fuß nach kilometerlangem Marsch einfinden, den „Straßenstrich“. Werden sie in Wagen oder LKWs abgeholt, müssen sie für diesen Transport auch noch bezahlen von dem wenigen, was ihnen bleibt von ihrem Tageslohn, der meist nur 25 € für einen 10- bis 13stündigen Arbeitstag beträgt.
Die Orangenernte in Italien wird zum größten Teil von diesen Männern geleistet – Reckinger geht von etwa 300000 (oder sogar mehr) Erntehelfern aus, die unter diesem System einer kriminellen Ökonomie (S. 134ff) extrem ausgebeutet werden und leiden. So sind psychische Krankheiten und Selbstmorde unter den Männern keine Seltenheit, wie Arif ihm berichtet (S. 91) Am schlimmsten ist oft die erdrückende Hoffnungslosigkeit, die in Gabrieles (aus Nigeria) Bericht aufscheint: „Ich werde noch verrückt. Ich sitze hier und kann nichts machen. Dabei hat mir Gott zwei kräftige Arme gegeben und gute Beine. Ich will mit meinem Körper arbeiten, denn das kann ich… Aber das ganze Jahr über gibt es keine Arbeit. Was ist aus mir geworden? Nichts! Ich bin jetzt schon 32 Jahre alt und habe nichts als die Kleider, die ich anhabe.“ (S. 121)
Trotz mancher Wiederholungen und einigen Längen ist der Text insgesamt ebenso lehr- wie auch abwechslungsreich zu lesen, auch durch die Fotografien, die immer wieder eingestreuten Infos zu Hintergründen (wie z.B. auch zum Thema Sprachen) und den O-Tönen vieler von ihm Interviewten.
Reckinger nähert sich den Menschen mit großem Respekt, behutsam und mit viel Empathie, nie werden sie zu ethnologischen „Forschungsobjekten“. Er beobachtet, schaut genau hin, fragt und ermöglicht so Einblicke in diese Welt der modernen Sklaverei, die man nicht hinnehmen will. Sein Buch ist ein Aufruf zum Protest gegen die Abschottung der europäischen Grenzen, gegen die Illegalisierung von Flüchtlingen und die rassistische Diskriminierung insbesondere der Afrikaner und gegen das ökonomische System, das dies alles ermöglicht, stützt und legitimiert. So endet seine Dokumentation mit der Feststellung: „Die Ausbeutung der Sklaven und Sklavinnen in Kalabrien ist nicht Ausdruck des Versagens des arbeitsteilig (neo)liberalen Wirtschaftsmodells, sondern im Gegenteil integraler Bestandteil, Voraussetzung und Ausdruck seines Funktionierens.„ (S. 229)
„Bittere Orangen“ eignet sich gut für die unterrichtliche Beschäftigung mit Arbeitsverhältnissen und Rassismus ab der 7./8. Klasse. Allerdings sollte man SchülerInnen unbedingt konkrete Leseaufträge geben, damit sie in der Fülle der Erzählungen und Berichte nicht verloren gehen.

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Diese Rezension wurde verfasst von SRAn; Landesstelle: Hessen.
Veröffentlicht am 11.11.2018