Bis einer stirbt

Autor*in
Beer, Isabell
ISBN
978-3-551-58438-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Carlsen
Gattung
Taschenbuch
Ort
Hamburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
14,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Leyla und Josh, deren Lebenswege sich erst später kreuzen, beginnen beide schon im jungen Teenager-Alter mit dem Ausprobieren verschiedener Drogen. Die ewige Suche nach dem Kick wird ihren Alltag zunehmend über viele Jahre bestimmen, auch wenn die dafür verwendeten Substanzen immer höher dosiert werden müssen – mit immer größerem Gefahrenpotenzial. Die Konsequenz: Josh stirbt mit 19 Jahren an seiner Sucht. Leyla hingegen wird es mit großer Disziplin schaffen, ganz allmählich clean zu werden.

Beurteilungstext

Isabell Beer, Jahrgang 1994, hat als freie Investigativ-Journalistin über mehrere Jahre die realen Lebenswege von Josh und Leyla verfolgt. Herausgekommen ist eine Mischung aus Biografie und Sachbuch, die einen detaillierten Einblick in die Drogenszene Internet vermittelt. Zwar bezeichnet die Autorin ihre beiden Protagonisten und deren Drogenkarriere nicht als repräsentativ; denn jeder jugendliche User hat seine ganz eigene Geschichte. Dennoch scheint es Muster zu geben, die sich in vielen Fällen wiederfinden lassen. Etwa „das Gefühl der Unsterblichkeit. Atemdepression, Herzstillstand – das passiert den anderen.“ (S. 230).
Beer beginnt ihr Buch, das auf realen Geschehnissen beruht, mit der Beschreibung der Kindheit von Josh und Leyla. In beiden Fällen gibt es keine besonderen Auffälligkeiten im Hinblick auf eine spätere Drogensucht. Der Einstieg geschieht schleichend, anfangs lediglich mit dem Wunsch, mal etwas Neues auszuprobieren. Josh hat im realen Leben kaum Freunde; er sitzt lieber stundenlang am Computer. Sein Interesse an Drogen ist groß; er will alles ausprobieren, bezeichnet sich selbst als „Versuchsschlampe“. Irgendwann sind es mehr als 200 Substanzen, die er zumeist per Internet bezieht. Er hat sie in teils hohen Dosierungen und prinzipiell tödlichen Kombinationen geraucht, inhaliert, geschluckt oder sich injiziert. Eine Hilfe lehnt er ab, da er trotz einiger Abstürze der Meinung ist, alles unter Kontrolle zu haben. Er stirbt mit 19 Jahren. Bei der Autopsie finden sich ausreichende Spuren von „Diclazepam, Delorazepam, Lorazepam, 3-MeO-PCP, 4-MeO-Butyrfentanyl, U-47700, GHB“ (S. 237) in seinem Körper.
Auch Leylas Drogenkonsum steigt zunehmend im Laufe der Jahre. Irgendwann bei Heroin angelangt, ist sie praktisch im Abstand nur weniger Stunden auf ständigen Nachschub angewiesen. Ein Abgleiten in die Prostitution bleibt ihr erspart, u.a. auch, weil ihre Mutter ihr finanziell immer wieder aushilft. Nach einem gefährlichen Absturz, der im Krankenhaus endet, wird ihr definitiv klar, dass die vermeintliche Kontrolle über Drogen längst zur krassen Sucht geworden ist. Wohl wissend, dass auch ein langsamer Ausstieg von heftigsten körperlichen Folgen begleitet sein wird, versucht sie ihre Sucht und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Mit Erfolg.
Beer beschreibt recht nüchtern, anfangs geradezu distanziert wirkend. Dass sie sich sehr penibel in die Thematik eingearbeitet hat, beweist allein schon die detaillierte Auflistung diverser Suchtmittel, die größtenteils im Internet bzw. Darknet bestellbar sind. Das Angebot dort wird ständig erweitert. Bei Verbot einzelner Substanzen werden diese geringfügig modifiziert und können dann bis zum nächsten Verbot legal vertrieben werden. Selbst erfahrene Notärzte können daher kaum auf dem Laufenden bleiben. Durch Internet-Chatkreise informieren sich die User über Angebote, Wirkungen und nötige Dosierungen, nicht selten in verharmlosend lustigen Worten. Das wird auch im Buch deutlich, so dass die Drogenproblematik im ersten Teil fast als Belanglosigkeit anmutet. Wesentlich deutlicher sind Beers Aussagen im Zusammenhang mit dem verstärkten Suchtverhalten ihrer Protagonisten. Es geht zunehmend um Leben und Tod, aber auch um gesellschaftliche Ächtung und ein völlig unzulängliches Management der Drogenproblematik seitens der Politik. Beer plädiert für eine weitgehende Legalisierung und Entkriminalisierung. Und sie tritt vehement ein für eine detaillierte Aufklärung samt klaren Safer-Use-Regeln und deutlich verbesserten Hilfsangeboten für Betroffene. Sie geht davon aus, dass ein simples Verbot von Drogen und entsprechende Strafandrohungen wenig bewirken, da der Umgang damit ohnehin niemals gänzlich zu unterbinden sei.
Das Buch möchte genau darauf aufmerksam machen und eine entsprechende Diskussion initiieren. Allerdings stellt sich dazu die nicht ganz einfach zu beantwortende Frage, wer tatsächlich daran (und an ihrem Buch) ein Interesse haben könnte. Gewiss können ihre Ausführungen beispielsweise Lehrer und Sozialarbeiter entsprechend sensibilisieren. Drogennutzer sehen sich hingegen oft nicht sonderlich gefährdet – bis es schließlich zu spät ist und sie in vielen Fällen gar nicht mehr selbst zu reagieren in der Lage sind. Freunde und Familienangehörige durchschauen oft nicht die geschickten Verschleierungs- und Verharmlosungsstrategien der Süchtigen. Das Buch könnte hierbei Hilfestellung geben.
Ob es etwa als Diskussionsgrundlage für Mittel- oder Oberstufe genutzt werden kann, ist etwas fraglich: Allzu ausführlich und spannungsarm sind die einzelnen Beschreibungen und Auflistungen diverser Drogen; die dramatische Zuspitzung der Ereignisse erfolgt ziemlich spät und ist streckenweise schwer zu ertragen. Im ungünstigsten Falle könnte dennoch durch die geschilderten Zustände nach Drogengebrauch, die vor allem anfangs eher harmlos oder auch cool anmuten mögen, ein Anreiz zum eigenen Ausprobieren resultieren - was allerdings schwerlich im Sinne der Autorin sein dürfte. Nützlich ist indes der Anhang: ein sachkundiges Interview mit der Leitung von Leylas Konsumraum, dazu eine Auflistung von Safer-Use-Regeln und einigen, leider noch viel zu wenigen Hilfsangeboten (vorwiegend im Internet).
Ein Stichwortverzeichnis/Glossar sucht man vergeblich; es wäre etwa im Hinblick auf die verschiedenen Substanzen und Konsumierungsvarianten, mit denen der mit der Materie wenig vertraute Leser konfrontiert wird, bisweilen sehr hilfreich.

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Diese Rezension wurde verfasst von RPGK; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 28.11.2021