Baby & Solo

Autor*in
Posthuma, Lisabeth
ISBN
978-3-446-27119-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
429
Verlag
Hanser
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
München/Wien
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
19,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Star Wars, Dirty Dancing, Hamlet, REM und Bon Jovi laden dem Leser zum Spielen ein. Die Suche nach Bedeutung sowie der Versuch, Fiktion und Realität eindeutig voneinander zu trennen, finden sich in diesem Buch auf mehreren Ebenen wieder.

Beurteilungstext

Baby und Solo, ein schöner Titel, der beim Leser, Bekanntes hervorruft. Das Cover lädt zum Lesen ein: Zwei Schattenfiguren sitzen auf einer ausgerollten Filmrolle, die sie einzuwickeln scheint.
Es sind Joel und Nicole, Mitarbeiter von Royo-Video. Nicole arbeitet schon länger in der Videothek, als Joel dort eingestellt wird. Nach einem langjährigen Aufenthalt in der Psychiatrie ist dieser Job für ihn der Beginn eines Lebens als „normaler“ Mensch. Unter keinen Umständen soll jemand auf der Arbeit von seiner Macke erfahren: Viele Jahre war er mit einem Mädchen Namens Chrystal befreundet, die außer ihm, niemand sehen konnte. Jetzt, wo Chrystal verschwunden ist, möchte er sich von seinem früheren Ich distanzieren. Die Videothek scheint der perfekte Ort hierfür zu sein, denn hier übernehmen Mitarbeiter eine andere Identität. Im Vorstellungsgespräch entscheidet sich Joel, Solo zu heißen, in Anlehnung an den rebellischen Schmuggler aus Star Wars, der mit seinem Charme, das Herz von Prinzessin Leia erobert. Nicole heißt bei Royo-Video Baby. Allerdings hat sie sich den Namen, im Gegensatz zu Joel, nicht freiwillig ausgesucht. Ihr Name gefällt ihr nicht. Mit Baby scheint Nicole wenig Ähnlichkeiten zu haben. Schließlich wird nicht Baby, sondern die Tanzlehrerin in Dirty Dancing schwanger.
Im Laufe des Romans kommen sich Baby und Solo immer näher. Zunächst empfehlen sie sich gegenseitig Filme. Dann schauen sie sich welche gemeinsam an. Baby beginnt intime Erlebnisse und Ängste mit Solo zu teilen, doch ihm fällt es schwer, sich ihr gegenüber zu öffnen und versucht zunächst eine oberflächliche Beziehung zu Baby zu führen. Ihrer Vorstellung einer echten Freundschaft entspricht das aber nicht, also droht Baby ihm damit, die Freundschaft zu beenden, wenn er ihr keine Einblicke in sein Inneres gewährt. Nach langen Überlegungen und einigen Streitigkeiten mit Baby, entscheidet sich Solo dazu, ihr Stück für Stück über sein Leben als „verrückter" Mensch zu erzählen. Zu Joels Überraschung trifft er bei Baby auf großes Verständnis. Seine Sicht auf die strikte Trennung zwischen normal sein und verrückt sein ändert sich.
Die Beziehung zwischen Baby und Solo gewinnt an Tiefe durch die Lieder, die in Schlüsselszenen im Hintergrund laufen. Nimmt man sich beim Lesen vor, die Songtexte nachzuschlagen, eröffnet sich die Möglichkeit, tiefere Einblicke in die Gefühlswelt der Figuren zu gewinnen.
Eine zentrale Rolle spielt im Roman der Realitätsstatus von Chrystal. In mehreren Rückblenden erzählt Joel chronologisch, wie er Chrystal zum ersten Mal begegnet ist und was er mit ihr im Laufe der Jahre erlebt hat. Sie war ein Fan von Bon Jovi und obwohl er dessen Musik nicht so gerne mochte, ging er mit ihr auf sein Konzert. Als er in Royo-Video anfängt zu arbeiten, scheint er sich mit der Erklärung der Ärzte, Chrystal sei Produkt seiner Einbildung, abgefunden zu haben. Doch immer wieder kommt es zu Momenten, in denen Joel das Gefühl hat, Chrystal in der Ferne zu sehen. Als er mit Baby in einem Lokal sitzt und etwas zu essen bestellen will, beginnt im Hintergrund Living on a Prayer von Bon Jovi zu laufen. Joel ist sich sicher, dass Chrystal im Lokal ist. Er beginnt sie zu suchen und stürzt sich auf ein Mädchen, das an einem anderen Tisch steht, in der Gewissheit, es handele sich um Chrystal. Als er merkt, dass es sich um jemand anderes handelt, sind nicht nur Baby und er verwirrt. Auch der Leser ist erstaunt. Es bleibt ungeklärt, ob Chrystal sich doch irgendwo im Lokal befindet oder ob Joel es sich nur einbildet.
Chrystals Realitätsstatus wird im Laufe der Erzählung immer wieder hinterfragt. Nicht nur von den Figuren, auch vom Leser. Joel, als Ich-Erzähler, beschreibt sich an mehreren Stellen im Buch als paranoider Mensch. Ob es sich um eine feste Eigenschaft oder einer im Zuge der Therapie erlernten Bezeichnung über sich selbst handelt, weiß man nicht. Er betont aber, dass paranoide Menschen zu Übertreibungen neigen. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern man dem Erzähler und seiner Sicht der Ereignisse, Glauben schenken kann.
Literarästhetisch betrachtet ist das Buch faszinierend. Die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Fiktion und Realität lässt dem Leser lange Zeit im Ungewissen. Jedoch bricht das Ende mit der Magie der Uneindeutigkeit. An dieser Stelle möchte ich nicht spoilern. So kann ich nur sagen, dass die Rolle von Chrystal in der Handlung ein Stück weit geklärt wird. Das ist schade, denn es nimmt dem Leser die Freiheit, selbst zu entscheiden, was er glauben möchte. Nun handelt es sich aber um ein Jugendbuch, das die Erfahrung von Kindheit und Jugend in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und Suizid thematisiert. Hiermit geht eine große Verantwortung einher, die eine einfühlsame und tröstende Erklärung notwendig macht. Welche diese ist, möchte ich nicht verraten.
Baby und Solo ist definitiv ein lesenswertes Buch. Auch wenn das Ende enttäuschend ist, kann es als Kompromiss zwischen dem ästhetischen Potenzial von Kinder- und Jugendliteratur und dessen pädagogischen Auftrag betrachtet werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von cbg; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 07.07.2022