Als der Winter verschwand

Autor*in
Šteger, Aleš
ISBN
978-3-7920-0256-8
Übersetzer*in
Göritz, Matthias
Ori. Sprache
Slowenisch
Illustrator*in
Dobrajc, Tina
Seitenanzahl
172
Verlag
Karl Rauch
Gattung
Buch (gebunden)
Ort
Düsseldorf
Jahr
2022
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Kurent ist ein mythisches Wesen, das der Legende nach in der Steiermark mit allerlei Schabernack den Winter vertreibt. In seiner Verkleidung mit Schaffell und Maske taucht er vor allem in der Karnevalszeit auf. Doch Jahr für Jahr bleiben die Winter aus und die Menschen vergessen den Kurent. Erst als große Hitze herrscht und das Land zur Wüste wurde, kehrt er noch einmal zurück. Er nimmt den Kampf gegen den habgierigen Eisunternehmer Heller auf und es gelingt ihm, den Winter zu befreien.

Beurteilungstext

Wohin geht die Menschheit? Keine geringere Frage stellt sich der slowenische Autor, Übersetzer, Lektor und Verleger angesichts der Bedrohungen durch Klimawandel, Verschmutzung der Erde und spätkapitalistischer Überproduktion in seiner märchenhaft-poetischen und gleichzeitig aufrüttelnd-spannenden Erzählung. Den Stoff entnahm er der traditionellen Mythen- und Sagenwelt seiner Heimat Steiermark. Dort wurde und wird der Kurent mit Maske, Schaffell und Kuhglocken seit Jahrhunderten zur Karnevalszeit als Vertreiber des Winters gefeiert. Einst hatten die Menschen unter den langen, strengen Wintern zu leiden. Heizmaterial und Nahrung waren knapp, das Leben in der Kälte für Mensch und Tier beschwerlich. Erleichterung brachte das Ende des Winters und der Beginn des Frühlings. Beides wurde dementsprechend mit ausgelassenen Bräuchen gefeiert. Zentrale Gestalt auf den Umzügen war der tanzende Kurent mit Maske, Feder- und Bänderchmuck, mit einer langen roten Zunge und roten Stulpen an den Beinen - in der Hand einen furchterregenden, mit einem Igelfell überzogen Stock.
Doch mit dem Ausbleiben der Winter verschwand auch der Kurent aus dem Bewusstsein und Gedächtnis der Menschen. Denn das, was selbstverständlich erschien - der Wechsel der Jahreszeiten – unterlag globalen Veränderungen. Das scheinbar seit Urzeiten bestehende Gefüge geriet aus dem Gleichgewicht. Klimawandel und Erderwärmung kein fantastisches Szenario, sondern Realität.
Geschickt führt Steger seine mythische Figur durch die Zeiten bis in die Gegenwart und konfrontiert sie mit den immensen Umweltschäden und der menschen- und lebensverachtenden Gier des "Firmenbesitzers" Hellmann, der mit seiner Eis-Produktion das Monopol über die Nahrungsmittelindustrie und die gesamte Lebensweise der Menschen erworben hat. Im Laufe der linearen Handlung entpuppt sich die Figur des stummen, maskierten Schalks als Kämpfer gegen die „bösen Mächte“ und Retter des „eingesperrten" Winters und damit letztendlich als Hoffnungsträger und Retter der Menschen.
In einer spannenden Handlung, deren Schlüsselszene die Auseinandersetzung mit der verlogenen und verachtenden Eisproduktion des Fabrikbesitzers Hellmann ist, spannt der Autor einen weiten thematischen Bogen um die aktuellen Bedrohungen vom Klimawandel über die wachsenden Müllberge und Umweltverschmutzung bis hin zur spätkapitalistischen Überproduktion, dem maßlosen Gewinnstreben der Konzerne und der Gefahr durch Atomenergie.
Wer glaubt an die Macht des Guten? Und daran, dass es eine bessere Zukunft geben könnte, in der auch noch Platz für Wünsche, Träume, Traditionen ist? Im Text ist es das Mädchen Flora. Neben den Widersachern Kurent und Hellmann eine wichtige Figur, die für das „normale“ menschliche Alltagsleben steht und stets hoffend Glauben und Realität verbindet. Den Tod ihres Bruders bei einem Atomunfall kann sie nicht vergessen. Gleichzeitig schließt sich mit ihr und ihrer Familie der Kreis um die Wiederkehr des Kurents in moderner Gestalt: Als ihr Sohn den alten Brauch des Faschingsumzugs wieder aufleben lässt.

Die gelungene Synthese von verknappter, hochpoetische Sprache und den ausschließlich in winterlichem Blau-Weiß gehaltenen allegorischen und lyrischen Bildern der Malerin Tina Dobrajc fasziniert. Wie Stegner in Sprache, Erzählstruktur und Plot setzt sich auch Dobrajc in ihren Illustrationen mit der heidnischen Mythenwelt und ihrem Bezug zur Gegenwart auseinander. Besonders die bildliche Darstellung der Figur des Kurent ist ihr wunderbar gelungen und sehr eindrücklich. Fast erinnert sie an eine verwunschene Märchenfigur: liebenswert, geheimnisvoll, fantastisch und doch auch etwas unheimlich.

Es ist ein ganz besonderes, ästhetisches Buchkunstwerk, das die Schönheit des alten Mythos aufnimmt und sich wie eine Parabel auf den Erhalt des Lebens auf der Erde liest. Gleichzeitig kann das Buch auch als Appell verstanden werden, sorgsam mit unserer Erde umzugehen und diese zu bewahren.
In diesem Sinne ist es als Klassenlektüre ab Klasse 7 oder 8 bei unterstützender Vermittlung im Literaturunterricht durchaus einsetzbar. Gerade weil sich viele Jugendliche in diesem Alter Gedanken um den Zustand und die Zukunft unseres Planeten machen, bietet die inhaltliche Erschließung des Textes zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für Gespräch, Auseinandersetzung und Reflektion. Auch Textform, Genre und stilistische Aspekte könnten betrachtet werden. Die spannende Handlung um die Einnahme der abgeschotteten Fabrikhalle und die Befreiung der reglos erstarrten Tiere ist mit märchenhaft-fantastischen Elementen durchdrungen und wirft gleichzeitig hochaktuelle Themen auf.

Für mich ein ästhetischer Genuss und DIE Entdeckung auf der diesjährigen Pop-up-Buchmesse in Leipzig.

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Diese Rezension wurde verfasst von ar.
Veröffentlicht am 15.06.2022