Adresse unbekannt

Autor*in
Nielsen, Susin
ISBN
978-3-407-81328-2
Übersetzer*in
Herre, Anja
Ori. Sprache
Illustrator*in
Mechanic, Leslie
Seitenanzahl
279
Verlag
Beltz & Gelberg
Gattung
Taschenbuch
Ort
Weinheim
Jahr
2023
Lesealter
12-13 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
10,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ein normales Leben zu führen und der Angst, von seiner Mutter getrennt und in ein Jugendheim gesteckt zu werden, belügt der 12-jährige Felix seine Freunde und sein Umfeld, um seine Obdachlosigkeit geheim zu halten.
Als der Druck jedoch zu groß wird und sein Freund Dylan herausfindet, dass Felix ihm nicht die Wahrheit sagt, weiht Felix ihn und Winnie, ihre Arbeitsgruppenpartnerin, in sein Geheimnis über die prekäre Wohnsituation ein. Von ihnen wird er unterstützt und in der Hoffnung gestärkt, dass die Teilnahme an einem Wettbewerb seine Probleme beheben könnte.

Beurteilungstext

Felix lebt mit seiner Mutter Astrid zusammen, die aufgrund misslicher Umstände Wohnung, Job und Partner verliert. Wegen ihres bisweilen respektlosen und eigensinnigen Wesens eckt sie häufig an. Da sie die Miete nicht mehr bezahlen kann, ziehen sie und Felix in einen alten VW-Bus. Nur mit dem Nötigsten ausgestattet verbringen sie den Sommer bis zum Schulbeginn in diesem Bus. Ausgedehnte Besichtigungsfahrten, die Astrid Felix anfangs versprochen hat, sind jedoch aus finanziellen Gründen nicht möglich. Mithilfe diverser mütterlicher Lügen, die Felix für sich in verschiedene Kategorien einteilt, um sie auch vor sich rechtfertigen zu können, bekommt er einen Platz in einer Schule mit Französisch-Sprachklassen. Dort trifft er seinen Kindheitsfreund Dylan wieder. Felix wird gerade bei den Besuchen in Dylans Familie und deren Zuhause zunehmend bewusst, wie absurd und gleichzeitig ausweglos seine eigene Wohnsituation ist. Um diese nicht zu offenbaren, gerät auch er immer tiefer in den Strudel aus Halbwahrheiten und Lügen.
Wenn seine Mutter besonders schlimme depressive Schübe hat, ist Felix auf sich allein gestellt. Er hat verschiedene Strategien entwickelt, mit Hungerphasen umzugehen, da er keine regelmäßigen Mahlzeiten bekommt. In öffentlichen Gebäuden führt er die notwendigsten Hygienemaßnahmen durch. Zwar fällt es seinen Mitschülern auf, dass er bisweilen ungepflegt ist und er ständig Hunger zu haben scheint, Felix ist jedoch genauso erfinderisch und überzeugend wie seine Mutter im Täuschen und darin, schlüssige Erklärungen anzubieten.

Als sich Winnie, Dylan und Felix für einen Wettbewerb anmelden und Felix es in die Endauswahl mit Fernsehauftritt schafft, scheint sich mit der Aussicht auf das Preisgeld für Felix der dringliche Wunsch nach einem Leben in einer ganz normalen Wohnung mit Schlafzimmer, Bad und Küche zu erfüllen.
Eines Abend werden Felix und seine Mutter von Betrunkenen bedroht und Felix ruft die Polizei. Damit wird der Status „OFW – ohne festen Wohnsitz“ offiziell und die Behörden sind aktiviert. Die Angst vor dem Jugendamt, die Felix´ Mutter aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in ihrer Jugend gemacht hat, erweist sich als unbegründet. Vielmehr erhalten die beiden freundliche Unterstützung. Felix kann trotz der widrigen Umstände erfolgreich an dem Wettbewerb teilnehmen. Zwar verläuft nicht alles so wie erhofft, jedoch erfährt Felix viel Zuspruch, echte hilfreiche Unterstützung und wahre Freundschaft. So kann er sich auch ein Stück von seiner Mutter lösen und einen eigenen Blick auf seine Mitmenschen entwickeln, ohne die Ängste seiner Mutter weiter zu teilen.

Susin Nielsen hat sich in sensibler und ansprechender Weise des Themas „Obdachlosigkeit“ angenommen. Zunächst mutet die Darstellung der Gründe für den Verlust von Wohnung und Job der Mutter sehr klischeehaft an: Respektlosigkeit, Eigensinnigkeit, vorurteilsgeprägtes Verhalten zusammen mit manisch-depressivem Grundwesen zeichnen sie aus. Dadurch kann der Leser den Eindruck gewinnen, dass die missliche Situation durch die Mutter selbstverschuldet und mit einer Verhaltensänderung zu lösen ist. Im Laufe der Geschichte erfährt der Leser jedoch, worin Astrids Verhalten begründet ist und dass es keine einfache und eindeutige Lösung gibt. Da schlimme Kindheitserfahrungen, der Tod des Bruders und das Fehlen verlässlicher Bezugspersonen die Mutter prägen, wird dem Leser klar, dass ohne Hilfe kein Ausweg aus der vertrackten Lebenssituation möglich ist. Dass Felix nicht viel früher aus der Situation ausbricht, Ruhe und Geduld bewahrt und eigene Überlebensstrategien entwickelt, ist der Liebe zu seiner Mutter geschuldet und der Angst vor einer behördlichen Anordnung des Sorgerechtsentzugs. Susin Nielsen entwirft freundliche und interessante Charaktere, die Felix zur Seite stehen. Vor allem Winnie, die ihre ganz eigene Art hat, Freundschaft zu leben, sorgt auf ihre Weise für Hilfe.

Auch wenn im wahren Leben wahrscheinlich nicht so viele glückliche Umstände dazu führen, dass sich schließlich die Wohnsituation entspannt, ein Job und ein Therapieangebot vorliegen, die Kinder eine gute Beziehung pflegen können und sowohl Lehrer als auch Sozialarbeiter Hand in Hand arbeiten, zeigt die Erzählung, dass Verheimlichen und Lügen keine Lösungen sind. Aus falschem Stolz oder falsch verstandener Rücksichtnahme zu schweigen und alles zu erdulden, wird ebenfalls als nicht zielführend offengelegt.

Das Buch spricht ein selten beachtetes Thema an, das häufiger in den Fokus rücken und ein Nachdenken über die Gesellschaftsstruktur und die Hilfssysteme anstoßen sollte. Wie schnell es gehen kann, aus dem Lebensumfeld zu fallen und seinen Sozialstatus zu verlieren, wird auch in einer Nebenhandlung aufgezeigt. Mit wachen Augen die Mitmenschen wahrzunehmen, Vorurteile abzulegen und eigene Möglichkeiten zu prüfen, Menschen in Notsituationen helfen zu können, sind Anregungen, die das Buch den Lesern mitgibt. Es wird aufgezeigt, dass Mitmenschlichkeit häufig von den Menschen kommt, von denen man es gar nicht erwartet, oder in Situationen gezeigt wird, in denen man sie nicht vermuten würde. Personen wie Winnie, Soleil oder die Familie Ahmadi helfen uneigennützig mit ihren jeweiligen Mitteln und Möglichkeiten. Sie geben ein Beispiel dafür, dass Mitmenschlichkeit und Offenheit stärker sind als Ignoranz und Egoismus.

Anmerkung

Ein lesenswertes Jugendbuch, das ohne erhobenen Zeigefinger auskommt und zum Nachdenken anregt.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Ivonne Schweitzer; Landesstelle: Hessen.
Veröffentlicht am 20.01.2024