Zikade

Autor*in
Tan, Shaun
ISBN
978-3-8489-0163-0
Übersetzer*in
Schönfeld, Eike
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Tan, Shaun
Seitenanzahl
32
Verlag
Aladin
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Stuttgart
Jahr
2019
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
17,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

„Zikade erzählt Geschichte. Geschichte gut. Geschichte einfach. Geschichte, die sogar Mensch versteht.“

Beurteilungstext

Grau in Grau, ein Block neben dem anderen in der anonymen Atmosphäre der Großstadt, Tristesse, Kälte, Bedrückung - bereits die Abbildung auf dem Vorsatzpapier des Bilderbuches wirft den Leser mitten hinein in die Welt des Protagonisten. Dieser, mit Namen Zikade, wie dem Dienstausweis zu entnehmen ist, scheint gut angepasst an das vorgefundene Milieu. Stellt sein grasgrüner insektengleicher Körper in der Eintönigkeit den einzigen Farbtupfer dar, so versteckt er ihn doch in seinem unauffälligen grauen Anzug. Der fleißige Angestellte geht in einem der unzähligen Hochhäuser einer monotonen Tätigkeit nach: „Dateneingabe. Siebzehn Jahre. Kein Tag krank. Kein Fehler.“ Entlohnt wird er dafür nicht. Immerhin ist „Zikade kein Mensch. Braucht kein Geld.“ Die Arbeit, die seine Kollegen nicht schaffen, beendet er, bleibt dafür lange im Büro und geht nach 17 Jahren, ohne ein Wort des Dankes von seinem Chef zu erhalten, in Rente. Allerdings scheint sich kein sehnlichst erwarteter, besserer Lebensabschnitt aufzutun. Da Zikade weder Geld noch eine Wohnung besitzt, führt ihn sein Weg hinauf auf das Hochhausdach. Es ist „Zeit für Abschied.“ Mithilfe des Bildes des am Rande des Hochhausdaches stehenden und in die Ferne schauenden Protagonisten spielt der Autor und Illustrator Shaun Tan mit den Erwartungen seines Publikums. Es kommt schließlich anders, als angedeutet: Aus der alten, einfarbigen Hülle befreit sich ein leuchtendes, dem Grau trotzendes Wesen. Über den Dächern der Stadt findet es seinesgleichen. Zu Dutzenden fliegen die Insekten zurück in ihr natürliches Habitat, den Wald.

Eindrücklich erzählt Shaun Tan aus dem Leben seiner Figur. Die Bilder sprechen für sich, kämen auch ohne Text aus. Dennoch tut eben dieser sein Übriges, um das erdrückende Gefühl, das bereits beim Betrachten der Illustrationen aufkommt, zu verstärken. Die elliptischen Sätze werden sparsam, aber durchgehend verwendet. In dieser Welt wird nur das Nötigste kommuniziert. Sachlichkeit steht im Vordergrund, Einblicke in Zikades Innenleben gewährt der Erzähler dem Leser in keiner Weise. Ebenso wenig Fülle weist die Bildebene auf. Auf nahezu jeder Seite ist lediglich der Protagonist in seinem Alltag dargestellt: Das Insekt im Großraumbüro, am Computer, nach Feierabend in seiner Nische. Doch gerade die Ausschnitte aus dem vermeintlich gewöhnlichen Leben verdeutlichen, wie wenig der Andersartige in dieses geschaffene unnatürliche Umfeld hineinpasst und dort erwünscht ist. So reicht Zikade kaum an das Außentableau des Fahrstuhls heran, wird ihm im Gespräch mit der Personalabteilung lediglich der Rücken zugekehrt oder sieht man ihn im Büro am Boden liegen, während ein Kollege ihn misshandelt, ein anderer tatenlos danebensteht. Der Künstler vermittelt bildlich auf direkte Art und Weise, welcher Ausgrenzung, Ignoranz und Brutalität seine Figur ausgesetzt ist. Die Situation spitzt sich zu, als klar wird, dass der einst fleißige Arbeiter in dieser von Menschen gemachten Welt nicht mehr gebraucht wird, da er seinen Dienst getan hat. Niemanden interessiert seine Zukunft, die, wie sich andeutet, von Inhaltsleere und Armut geprägt wäre. Es ist nun nicht mehr übersehbar, dass er nicht dazugehört. Nahezu befreiend ist es für den Rezipienten schließlich, dass sich das Insekt offenbar auf sein eigentliches Wesen besinnt, sich weiterentwickelt und in sein natürliches Umfeld zurückkehrt. Zurückgelassen wird der Leser mit dem Bild des abgelegten Dienstausweises und den eindringlichen Worten: „Alle Zikaden fliegen zurück in den Wald. Denken manchmal an die Menschen. Müssen dann lachen.“ Shaun Tan erklärt nicht, er belehrt nicht. Andeutungen wie diese zwischen all der Sachlichkeit müssen dem Adressaten genügen und bieten viel Raum für die eigenen Vorstellungen. Gekonnt lässt „Zikade“ das Publikum mit etlichen Fragen und Gedanken zurück. Es handelt sich hier um ein Buch, welches den Leser mit voller Kraft hineinwirft in Geschehnisse, vor denen niemand angesichts aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen die Augen verschließen kann. Dabei ist das Spektrum der aufgenommenen Inhalte breit. Die Geschichte behandelt Aspekte wie Andersartigkeit, Diskriminierung, Macht, Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung. Zudem gibt sie Anregungen zum Nachdenken über Anonymität und Zugehörigkeit, über das Funktionieren und die Anpassung eines jeden in gesellschaftlichen Kontexten, über die Berücksichtigung von Bedürfnissen. Die ausgewählten Handlungen in einzelnen Szenen werden jedoch sowohl auf der Text- wie auf der Bildebene weder beschönigt noch ins schlechte Licht gerückt. Die Bewertung wird allein dem Rezipienten überlassen. Entziehen kann sich dieser nicht.

Sicherlich können Kinder in dem Medium so einiges entdecken. Im Hinblick auf die Komplexität der Themen, die intertextuellen Bezüge zu anderen Werken (z. B. Kafkas „Die Verwandlung“) und die sich leserseitig entwickelnde Fähigkeit der Dechiffrierung im Umgang mit Texten eignet sich das Buch jedoch eher für Jugendliche oder Erwachsene. Im Unterricht der höheren Klassenstufen kann es durchaus vielfältig eingesetzt werden. Eine Empfehlung für alle, die anspruchsvolle Literatur nicht scheuen!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Stef; Landesstelle: Sachsen.
Veröffentlicht am 27.05.2020

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