Zeit heilt keine Wunden. Das Leben des Ernst Grube
- Autor*in
- Brinkmann, Hannah
- ISBN
- 978-3-96445-121-7
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- Brinkmann, Hannah
- Seitenanzahl
- 272
- Verlag
- avant-verlag
- Gattung
- Buch (gebunden)Comic / Graphic Novel
- Ort
- Berlin
- Jahr
- 2024
- Lesealter
- 14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- FreizeitlektüreKlassenlektüre
- Preis
- 30,00 €
- Bewertung
Schlagwörter
Teaser
Die Zeitzeugen zum Holocaust werden immer älter, doch plötzlich bildet sich eine neue Gattung heraus, mit der sie sich an die Jugendlichen heute richten: Der „Zeitzeugencomic“. Hannah Brinkmann hat mit Ernst Grube ein Thema herausgearbeitet, das bislang zu kurz kam: Die fehlende Aufarbeitung in der Nachkriegszeit.
Beurteilungstext
Hannah Brinkmann wurde 1990 in Hamburg geboren. Sie studierte Grafische Erzählung an der in Hamburg, in Tel Aviv und in Angoulème. In Gesprächen mit Ernst Grube hat sie dessen Schicksal im Nationalsozialismus und nach 1945 aufgearbeitet und kombiniert mit einer Parallelgeschichte, der des Richters Kurt Weber, der ein Opportunist war und schließlich Grube als vorsitzender Richter in einem Verfahren am Bundesgerichtshof 1959 zu anderthalb Jahren Haft verurteilte, weil er Flugblätter für die damals verbotene KPD transportiert hatte.
Es gibt eine Rahmenhandlung, die Ernst Grube als alten Mann zeigt, der vor Schüler*innen seine Geschichte erzählt. Ansonsten besteht der Comic aus drei Teilen: In „Die Kindheit überleben“ berichtet Grube von seiner Familie. Die Mutter war Jüdin und Kommunistin und verheiratet mit einem Nicht-Juden. Das schützte sowohl sie wie auch die drei Kinder zunächst vor dem Abtransport. Da sie aber zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde und die Familie ständig Schikanen unterworfen wurde, schickte man die drei Kinder in ein jüdisches Waisenhaus, wo sie liebevoll betreut wurden, die Eltern aber nur alle paar Wochen sehen konnten. Schließlich werden Mutter und Kinder aber doch nach Theresienstadt abgeholt, wo sie aber nur relativ kurze Zeit verblieben, bevor das Lager von der Roten Armee befreit wurde. Unterbrochen wird die Erzählung durch eingefügte Gesetze und Erlasse der Nazis in weißer Schrift auf rötlichem Untergrund, um zu zeigen, dass jeder und jede gewusst haben musste, was die Nazis planen.
Im zweiten Teil beschreibt Brinkmann das Schicksal des Juristen Kurt Weber, der sich nicht auf die Beziehung zu seiner jüdischen Verlobten einlässt und sie verlässt, als sie mit ihm ins Ausland gehen möchte, um seine eigene Karriere nicht zu gefährden. Damit verhält er sich anders als Ernst Grubes Vater, der an seiner jüdischen Frau festgehalten hatte. „Eine deutsche Karriere“ wird dieser Teil genannt und in der Tat wird eine typische Geschichte erzählt, in der der Opportunismus Webers schließlich darin gipfelt, dass er es schafft, nach 1945 trotz seiner herausragenden Stellung in der NS-Justiz, von den amerikanischen Alliierten entlastet zu werden. Kurt Webers Geschichte ist komplett aus seinen Spruchkammerakten und Personalakten in Karlsruhe, seinen NS-Personalakten in Stuttgart und Zeitungsarchiven in Mannheim erarbeitet, hier finden sich sicher auch mehr fiktive Elemente, weil Brinkmann nicht mit ihm selbst gesprochen hat. Beide Geschichten werden am Ende zusammengeführt, als es Weber gelingt, Grube mit Erzählungen über seine jüdische Verlobte dazu zu bringen, mit ihm zu kooperieren, bevor er ihn verurteilt.
Der dritte Teil „Der lange Prozess“ zeigt Grubes Leben nach 1945: Der Familie geht es weiter schlecht, Entschädigungen erhält man nicht und Grube nähert sich in dieser Situation seiner zukünftigen Frau an, die in der FDJ aktiv ist. Grube wird dann sogar dazu ausgewählt in der „Ostzone“ an Schulungen teilnehmen zu dürfen und ist begeistert von der DDR, wird aber wegen seiner kommunistischen Einstellung in der neuen BRD verfolgt. Und das ist wirklich ein Aspekt, den man ansonsten vergeblich sucht. Brinkmann meint: Das hängt „auch mit dem Narrativ zusammen, dass nach 1945 alles vorbei war und sich zum Guten wandte: Die Diktatur war besiegt, die Demokratie wurde etabliert. Das ist natürlich nur bedingt wahr. » - so sagt sie in einem Interview (https://www.avant-verlag.de/2025/01/21/zeit-heilt-keine-wunden-interview-mit-hannah-brinkmann/). Für geschichtlich versierte Leser*innen ist die allzu positive Darstellung der kommunistischen Jugendorganisation vielleicht nicht immer so nachvollziehbar. Bis auf eine leise Kritik daran, dass die Lehrer nicht mit den Jugendlichen zusammen essen wollten, hatte der ihr erzählende Grube wohl auch von heute gesehen keine Probleme mit der Struktur der Bewegung.
Der erste und der dritte Teil der Comicerzählung ähneln sich in der Gestaltung: Erdige Farben und auffällige Anspielungen auf anatomische Zeichnungen, die das Innere der dargestellten Figuren aufgreifen könnten. Der zweite Teil ist farblich blass gehalten, wie alte Fotos in beige und Sepia, auffällig ist hier die graphische Umsetzung von Metaphern, etwa von Weber als „Rädchen im System“ oder als Drachen, der mit dem Wind bewegt wird. Dabei wird recht differenziert wiedergegeben, welchen nachvollziehbaren Bedrohungen Weber ausgesetzt war, so dass er nicht wirklich als Monster erscheint. Wenn man Brinkmanns Comic mit den anderen in den letzten Jahren erschienenen Comics vergleicht, so ist er sowohl ästhetisch in der Wahl der Darstellungsmittel ambitioniert, wie auch eine inhaltliche Bereicherung, weil er den Blick über die „Stunde Null“ hinauslenkt und ganz neue Themen aufgreift. Angesichts der Infragestellung von Geschichtsaufarbeitung durch die „Neue Rechte“ ist die Aktualität des Dargestellten nicht zu überbieten. Noch einmal Brinkmann: „Von Anfang an war die menschenverachtende Rhetorik vorhanden, man hätte ahnen können, worauf diese gesetzlich gesteuerte Diskriminierung hinausläuft. Die Nazis selber haben es ja schwarz auf weiß abgedruckt. Das zeigt deutlich, dass wir uns immer wieder bewusst machen müssen, was in unseren politischen Systemen passiert.“ (a.a.O.)
Sie erhielt im Februar 2025 den ersten „Dortmunder Comicpreis“ für ihren ersten politischen Comic „Gegen mein Gewissen“ (2020) über ihren Onkel, der in den 70er Jahren Wehrdienstverweigerer war.