Wer die Nachtigall stört

Autor*in
Harper, Lee
ISBN
978-3-499-21754-8
Übersetzer*in
Malignon, Claire (überarbeitetvon Stingl, Nikolaus)
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
446
Verlag
Rowohlt
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Reinbek
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
9,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

„Dieser Tom-Robinson-Fall ist eine Sache, die an den Wurzeln des menschlichen Gewissens rührt“, gibt Atticus Finch zu bedenken und trifft damit den Nagel auf den Kopf – damals wie heute. Und so ist es großartig, dass der Klassiker von Harper Lee „Wer die Nachtigall stört“ in einer Taschenbuchausgabe neu erschienen ist.

Beurteilungstext

Der Roman „Wer die Nachtigall stört“ ist bereits 1960 veröffentlich worden und hat schon damals den Nerv der Zeit getroffen. Für ihr Debut gewann Harper Lee prompt den Pulitzer-Preis und zwei Jahre später wurde der Roman verfilmt und Gregory Peck hat in der Rolle des Atticus Finch einen Oscar gewonnen. Was für eine Erfolgsgeschichte! Umso mehr wundert man sich darüber, dass Harper Lee erst 2015 – nur ein Jahr vor ihrem Tod – einen zweiten Roman veröffentlich hat. In der Zwischenzeit hat sie zurückgezogen gelebt. Warum? Das bleibt ein Rätsel.
Mit einem Rätsel um den Nachbarn Boo Radley geht auch der Roman „Wer die Nachtigal stört“ los. In einem heißen Sommer der 1930er Jahre in den Südstaaten von Amerika versuchen die Geschwister Jem und Scout mit ihrem Freund Dill dem Geheimnis ihres Nachbarn auf die Spur zu kommen, den sie noch nie zu Gesicht bekommen haben. Es ranken sich nur zahlreiche und gruselige Geschichten um ihn, sodass es für die Kinder jedes Mal einen Nervenkitzel bedeutet, am Haus der Radleys vorbeizugehen. Aber der Roman ist keine Abenteuergeschichte über die aufregende Kindheit in den USA zu Beginn des letzten Jahrhunderts, sondern eine Gesellschaftsanalyse, die noch heute hochaktuell ist.
Es ist ein heißer Sommer, weil die Sommer in Alabama nun einmal heiß sind. Aber gleichzeitig schafft Lee mit einer bildhaften Sprache, die die Hitze spürbar macht, eine drückende Atmosphäre krankhaften Brütens und lähmender Bewegungslosigkeit. Diese Stimmung trägt die Geschichte vom Rechtsanwalt Atticus Finch und seinen Kindern Jem und Scout. Atticus verteidigt den Schwarzen Tom Robinson vor Gericht, der zu Unrecht angeklagt wird, eine junge Weiße vergewaltigt zu haben. Tom wird zum Tode verurteilt, obwohl jedem klar ist, dass er es nicht gewesen sein kann, und wird schließlich auf der Flucht erschossen.
Weil Atticus die Verteidigung eines Schwarzen übernimmt, müssen die Kinder viel aushalten. Und am Ende verliert Atticus den Prozess, wie nicht anders zu erwarten war. Aber gerade daran macht der Vater seinen Kindern deutlich, worin für ihn der Auftrag des Menschen besteht: „Ich wollte dir zeigen, was wirklicher Mut ist, statt dich in der Idee zu bestärken, dass ein Mann mit einem Gewehr in der Hand Mut bedeutet. Mut heißt: von vorneherein wissen, dass man geschlagen ist, und trotzdem den Kampf – ganz gleich, um was es geht – aufnehmen und ihn durchstehen.“ Eine Erkenntnis, die man sich selber auftragen kann, wenn man aufgrund einer Aussichtlosigkeit geneigt ist, den Kampf gar nicht erst aufzunehmen. Und ein Gefühl der Ohnmacht begleitet viele Menschen im Angesicht große Herausforderungen – nicht zuletzt Jugendliche, die ihre Rolle in einer Welt der Kontingenz und Übermacht finden müssen.
Es geht einem nahe, die Gerichtsverhandlung lesend zu verfolgen, denn es ist kaum auszuhalten, dass die Beweislage eindeutig gegen die Täterschaft spricht, die Argumentation der Ankläger beschämend einfach ist und doch das Urteil eindeutig gefällt wird: Schuldig, so der Mehrheitsbeschluss. Ein Schlag, der dem jungen Jem, der noch an das Gute, Gerechte und Wahrhaftige glauben will, das moralische Genick zu brechen droht. Und Atticus, der immer alles erklären und verständlich machen kann, ist in dieser Lage nur dazu fähig, an Jems Standfestigkeit zu appellieren: „Das Einzige, was sich keinem Mehrheitsbeschluss beugen darf, ist das menschliche Gewissen.“ Sätze wie dieser, schön, richtig, ja einwandfrei, sind es, die der Figur Atticus den Vorwurf einbringen, moralisch doch etwas zu sauber zu sein. Aber das ist m.E. vollkommen unproblematisch, denn als Figur funktioniert er und darauf kommt es an. Man könnte auch einwenden, dass Haper Lee mit ihren Figuren im Grunde das bestehende Standesdenken festigt und ja, die Figuren sind weiß Gott nicht revolutionär. Aber sie sind stimmig für die Zeit, in der die Geschichte spielt. Und die Stimmigkeit verleiht dem Buch die Glaubwürdigkeit und Wirkung, die es besitzt.
Das Problem in der Gerichtsverhandlung um die Schuldigkeit von Tom Robinson war es, dass Menschen nicht zwingend ihrer Vernunft folgen, obwohl sie im Alltag vernünftige Menschen sind. Bei manchen Fragen schiebt sich etwas zwischen sie und ihre Vernunft und dann verlieren sie den Kopf. So in den 1930er Jahren in den Südstaaten, wenn ein Schwarzer angeklagt wird, einer Weißen etwas angetan zu haben. So aber auch heute wieder (oder immer noch), bspw. im Zusammenhang mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit.
Dieses Buch hat seinen Status als Klassiker mehr als verdient. Und auch wenn es in Deutschland sicherlich nicht zur Schullektüre wird, wie in den USA, so ist es doch wünschenswert, dass viele es lesen werden.

(AJuM Hamburg, Jochen Heins)

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Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 02.04.2017