Weil.

Autor*in
Muser, Martin
ISBN
978-3-551-58493-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
125
Verlag
Carlsen
Gattung
Buch (gebunden)
Ort
Hamburg
Jahr
2023
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
13,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Fünf Freundinnen und Freunde aus der Abschlussklasse eines Gymnasiums. Ein harmloser Ausflug in ein Wochenendhaus; gemeinsames Lernen für die Abiprüfungen und etwas Spaß. Ein Albtraum, der alle Gewissheiten über den Haufen wirft.

Beurteilungstext

Esther und Knut, Selin, Philipp und Manuel kennen einander seit Jahren. Sie sind befreundet; Esther und Knut sowie Selin und Philipp sind Paare. Auf die fünf jungen Leute wartet die Abiturprüfung im Leistungskurs Ethik. Sie fahren zum Wochenendhaus von Esthers Eltern, wollen dort gemeinsam büffeln, aber auch entspannen und die Gemeinschaft genießen. Auf dem Weg lassen sie einen Anhalter in den VW-Bus zusteigen. Der merkwürdige Fremde provoziert sie umgehend, nicht zuletzt mit rassistischen Sprüchen gegen den dunkelhäutigen Philipp und die türkischstämmige Selin. An einer Tankstelle beschließen die Freunde, während der Anhalter auf der Toilette ist, ohne ihn weiterzufahren. Erst nach einigen Kilometern bemerken sie, dass sein billiger Rucksack im Bus geblieben ist – darin ein T-Shirt, ein abgegriffener Rubik-Würfel, eine Packung mit Tabletten. Nach kurzer Diskussion werfen sie das Gepäckstück aus dem Fenster. Am Wochenendhaus angekommen läuft zunächst alles nach Plan – Baden im See, Abendessen, Gespräche über die bevorstehenden Prüfungen und nicht zuletzt über das Erlebnis mit dem Anhalter. Am nächsten Morgen werden sie von lautem Klopfen an der Tür geweckt. Der Fremde steht davor und will seinen Rucksack zurück. Er ist nicht allein – zwei bedrohlich wirkende Männer Mitte zwanzig begleiten ihn, dringen ins Haus ein und beginnen, die Jugendlichen zu bedrohen. Zwei fahren mit einem der Eindringlinge die Fahrstecke ab, um den Rucksack zu finden – ohne Erfolg. Währenddessen attackieren die beiden anderen die Zurückgebliebenen, beschimpfen sie und zwingen sie zu manipulativen „Spielen“. Knut wurde während der Fahrt von einem der Männer mit einem Schraubenschlüssel am Knie verletzt. Die Freunde beschließen, den Fremden Geld anzubieten um sie loszuwerden – mit 80 Euro verlassen diese schließlich das Haus. Das Aufatmen der Jungen und Mädchen währt kurz, schon nach wenigen Stunden sind sie zurück. Sie nehmen die fünf in eine Art Kreuzverhör, wobei sich besonders Henk hervortut; der ebenso intelligente wie grausame Wortführer. Er verwickelt die Abiturienten in eine Diskussion um ethische Grundsatzfragen; immer wieder auf ihre „Schuld“ wegen des verlorenen Rucksacks fokussierend, aber auch auf ihre Herkunft aus bessergestellten Gesellschaftsschichten. Die Situation eskaliert mehr und mehr, nicht zuletzt auch, weil die Männer die Jugendlichen nun mit einem Gewehr bedrohen. Esthers Bestreben, zu fliehen und den eigenbrötlerischen Nachbarn um Hilfe zu bitten, scheitert; auch ein Versuch, die Fremden zu überwältigen, endet erfolglos. Schließlich wird mittels eines Abzählreims ein Gruppenmitglied dazu bestimmt, „schuldig“ zu sein und mit dem Erschießen bedroht: es trifft Selin. Dann die plötzliche Wendung: Liam, der Anhalter, erleidet einen Herzanfall; es wird klar, dass er schwer krank ist. Die beiden anderen geben sofort auf, lassen Hilfe herbeiholen und verschwinden. Zurück bleiben fünf Freunde, die ihre Welt und die Beziehungen zueinander nicht mehr wiedererkennen.
Martin Muser hat ein beklemmendes Buch vorgelegt. Er bekennt im Nachwort, dass dieses Werk ein Versuch sei, der eigenen Ängste Herr zu werden: „Der Angst, keine Antwort auf die Frage zu haben, was unter den Bedingungen von Terror und Gewalt genau zu tun ist.“ (S. 125) Diese und ähnliche Fragen thematisiert er in schonungsloser Offenheit: Wie verändern wir uns in Momenten extremer äußerer Bedrohung? Welche Wertmaßstäbe und Überzeugungen können wir noch aufrechterhalten? Wie mutig sind wir, wenn es zum Äußersten kommt? Wann und weshalb werden wir zu Verrätern? Knut fasst diese existenziellen Fragestellungen so zusammen: „Die Frage ist eben, wie kann man Widerstand leisten, ohne dabei selbst draufzugehen?“ (S. 55) Antworten hält das Buch nicht bereit. Es legt offen, dass das nackte Leben ebenso jederzeit bedroht sein kann, wie die schützende Hülle von Zivilisation, Bildung und Kultur. Es zeigt aber auch, dass Menschen in solchen Momenten über sich hinauswachsen können, dass es Tapferkeit und Solidarität gibt. Der Grat, der die eine Seite von der anderen trennt, ist sehr schmal. Muser nennt auf seiner Homepage sein Buch ein „Kammerspiel“. Das trifft es sehr gut – Leserinnen und Leser erleben ein straff durchkomponiertes Werk, in dem es eine einzige, chronologisch erzählte Zeitebene gibt, das eine (weitgehende) Einheit des Handlungsortes und der Figuren aufweist und seine innere Dramatik ohne wesentliche äußere Eingriffe entfaltet. Die Sprache ist rasant. Knappe und prägnante Sätze treiben die Handlung voran, die Dialoge sind pointiert, schnoddrig und scharf. Der Autor mutet seinen Leserinnen und Lesern viel zu und evoziert Reflexionsprozesse über die eigenen Wertmaßstäbe und Verhaltensweisen. Leider weist das Buch auch einige Schwächen auf. Es ist wenig glaubwürdig, dass Henk, der „Rädelsführer“ der Eindringlinge, neben größter Grausamkeit und einem ausgeprägten Sadismus auch über eine solide philosophische Grundbildung verfügt und mit den fünf Gymnasiasten Streitgespräche über Maximen aus den Werken von Aristoteles und Kant führt. Die Peripetie am Ende, der Anfalls Liams in dem Moment, da Selin mit dem Tode bedroht wird, ist zu sehr an Thriller-Vorbildern geschult. Vor allem aber bleibt die quälende Frage offen, welche psychologischen, biografischen und sozialen Ursachen zur Verrohung der drei Angreifer geführt haben. Dennoch ist das Buch in hohem Maße mitreißend und bietet eine Grundlage für intensive Diskussionen. Erwähnenswert ist schließlich noch die edle Ausstattung, die der Carlsen-Verlag dem Buch mitgibt – ebenso schlicht wie stimmig.

Anmerkung

Das Buch kann im Unterricht eingesetzt werden; auch fächerübergreifend, vor allem im Verbund mit Ethik/Philosophie.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 14.02.2023