Warum wir Günter umbringen wollten

Autor*in
Schulz, Hermann
ISBN
978-3-8489-2017-4
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Witte, Maria Luisa
Seitenanzahl
156
Verlag
Aladin
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2013
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Zugegeben, nach der Lektüre dieses Buches bin ich schockiert. Die Stille nach der Barbarei der NS-Zeit ist beim Lesen körperlich spürbar und die moralische Orientierungslosigkeit nahezu unerträglich. Dabei werden in herausragender Dringlichkeit die Fragen nach Schuld und Verantwortung aufgeworfen. Das Ergebnis könnte man eine gelungene Provokation nennen und mutig oder auch unverständlich und unangemessen...

Beurteilungstext

Ein Jugendbuch gilt schon lange nicht mehr nur dann als gut, wenn alle moralischen Normen der Gesellschaft erfüllt werden: die Lust am Verbrechen, der Reiz, das Zerbrechen von Figuren an den moralischen Normen mitzuerleben, und die solidarische Empörung gegen bestehende Ordnungen sind wirkungsästhetische Elemente, die jeder erzieherischen Domestizierung von Literatur widersprechen. Und das ist auch gut so: Literatur ist „Sprachrohr der verdrängten, uneingestandenen, verpönten Bedürfnisse.“ (Spinner 1989, S. 14) Aber ob ein SS-Soldat der Totenkopf-Division 1947 zu einer Gruppe von Jungen, die einen „Behinderten“ auf brutale Weise gequält, verwundet und gedemütigt haben, sagen kann, dass sie sich „nicht zu schämen“ (131) brauchen, wirft Fragen auf, die anders gelagert sind als die postulierte Nichtdomestizierbarkeit der Literatur. Es sind die Fragen nach Schuld und Scham, die das Lesen dieses Buches zu einer unvergesslichen Auseinandersetzung mit sich selbst machen und nebenbei ein Stück Erinnerungsarbeit leisten.

Aber der Reihe nach: Der Roman „Warum wir Günter umbringen wollten“ spielt 1947, in einer Zeit zwischen Krieg und Frieden, in einer moralisch orientierungslosen Gesellschaft. Nach und nach kehren die Väter, die den Krieg überlebt haben, nach Hause zurück. Sie haben Schlimmes erlebt, sind traumatisiert und mit ihren Fragen und Ängsten auf sich zurückgeworfen. Die Beziehungen der Menschen zueinander sind oberflächlich und im Speziellen die Beziehungen der Väter zu ihren Söhnen problematisch. In Folge der vaterlosen Jahre wird Erziehung vielerorts als hartes Durchgreifen, Drohen und Gewalt missverstanden. Die bedrückende Stimmung, das Schweigen und Verschweigen, das Wegsehen und die Lähmung der Dorfgemeinschaft werden im ersten Teil des Buches in überzeugender Weise und sprachlich in atmosphärischer Dichte geschildert. Beobachtend und zurückhaltend wird das Leben aus der Perspektive von Freddy, einem etwa 12-jährigen Jungen, erzählt. Was die Erzähltechnik anbelangt, kann das Buch insgesamt als – ohne dies abwertend zu meinen – altmodisch bezeichnet werden: Es gibt keine Perspektivwechsel, sondern es wird konstant aus der Innensicht von Freddy erzählt und die Geschichte schreitet strikt chronologisch voran. Aber die Schlichtheit der Erzähltechnik erscheint angemessen, weil man sich als Leser ganz auf den Inhalt der Erzählung konzentriert und sich keine Gedanken über die Art und Weise der erzählerischen Präsentation zu machen braucht.

Und in dieser Zeit um 1947 gerät einer Gruppe abenteuerlustiger Jungen eine Situation aus dem Ruder. Günter, ein Junge, mit dem man „nichts [...] anfangen“ konnte, stört den Plan der Gruppe, Eier zu stehlen. Sie beginnen ihn zu quälen, pinkeln ihm in die Taschen und bewerfen ihn mit Steinen. Im Anschluss an ihre Tat geraten sie in Angst darüber, dass Günter sie verraten könnte und die Drohungen der Eltern, sie „totzuschlagen“ oder ins Heim zu stecken, Wirklichkeit werden. Die Spirale aus Angst, Schuld und Hilflosigkeit, aus der sie keinen Ausweg sehen, treibt sie schließlich dazu, dem Plan von Leonard zuzustimmen: Sie wollen Günter umbringen. Die Argumentation der Gruppe besteht in der Minderwertigkeit eines Behinderten und dass auch die Erwachsenen im Krieg so gehandelt haben. (51)
Aber nicht alle aus der Gruppe sind vollkommen überzeugt. Insbesondere Freddy – der Ich-Erzähler der Geschichte – und Dietrich kommen schon früh zu der Erkenntnis, dass sie nicht so handeln dürfen, auch wenn die Erwachsenen im Krieg Ähnliches begangen haben. Lange bringen sie aber nicht den Mut auf, sich gegen den Plan zur Wehr zu setzen. Der Grund dafür ist Leonard. Als der Kopf der Gruppe beschwört er sie, zusammenzuhalten, damit keinem von ihnen etwas passiert.
Und kurz bevor es zur unumgänglichen Tat kommt, taucht ein Mann bei ihnen im Wald auf (der sich später als Freddys Neffe Willi, einem Mitglied der Waffen-SS in der Totenkopf-Division, herausstellt) und hält ihnen einen Spiegel vor, in dem sie die Grausamkeit und Abscheulichkeit ihres Plans erkennen.

Worin besteht nun die schockierende Fragwürdigkeit dieses Romans, auf die einleitend eingegangen wurde? Sie besteht darin, dass das Verhältnis von Schuld und Scham zwei völlig unterschiedliche Lesarten ermöglicht. Als der Thematik unangemessen ist die Lesart, die sich unmittelbar und automatisch einstellt. Die zweite kann als zukunftsweisend und mutig bezeichnet werden.
Parallelisiert sind in diesem Roman die Ebenen der Jungen und die des Einzelnen in der NS-Zeit.
Die Jungen geraten durch eine Spirale aus Scham, Schuld und Versagen in eine Situation, aus der sie nicht wieder herauszukommen scheinen. Sie werden von einem SS-Mann mit ihrer barbarischen Entscheidung konfrontiert. Nachdem sie Günter nicht umgebracht haben, erkennen sie, dass ihre Schuld insbesondere darin besteht, dass sie nicht die Kraft hatten, sich gegen Leonard, den Anführer, dessen persönliche Schmach und Last in Wut umgeschlagen sind, aufzulehnen. Ihre Schuld ist, mitgemacht zu haben. Die Parallelen zur NS-Zeit sind auffällig: Schmach und Wut nach dem verlorenen 1. Weltkrieg und dem Scheitern der Weimarer Republik waren der Nährboden der Machtergreifung Hitlers. Und viele erkannten erst, in welchen Sog der Unmenschlichkeit sie geraten waren, als ein Netz aus Angst, Drohung und Hilflosigkeit kaum noch Möglichkeiten bot, auszusteigen. Sie haben sich mitschuldig gemacht, weil sie mitgemacht haben.
Und der Erkenntnisprozess der Jungen, dass man aus manchen Situationen unschuldig und straffrei nicht mehr herauskommt, scheint in dem Schweigen und Wegsehen der Dorfgemeinschaft ex-negativo seine Entsprechung zu finden. Denn die Aufklärung der Schuld der Jungen hieße, die eigene Schuld zu reflektieren. Der Wunsch, die Schuld der Jungen und die eigene Mitschuld lieber zu verdrängen, scheint sich in dem Mantel des Wegsehens auszudrücken. Die Frage der Schuld wird damit überzeugend und mutig aufgeworfen und gleichzeitig eine weitverbreitete Form des Umgangs mit der eigenen Schuld vor Augen geführt: Verdrängen – eine Strategie, deren Scheitern die Jungen ebenfalls erleben. Es ist die Scham, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld verhindert.
Aber warum wird der Erkenntnisprozess der Jungen und das erkenntnisschwangere Schweigen der Dorfgemeinschaft scheinbar banalisiert, indem den Jungen eine Erleichterung für den Umgang mit ihrer Schuld angeboten wird? Eine Erleichterung, die darin besteht, sich nicht für ihre Schwäche und Mutlosigkeit schämen zu müssen. Und wenn diese Aufforderung von einem SS-Soldaten der Totenkopf-Division ausgesprochen wird, also von keinem einfachen Soldaten, sondern einem Mitglied einer Elite-Einheit, die u.a. für die Bewachung der Konzentrationslager zuständig und für ihre besondere Gesinnungstreue und Grausamkeit bekannt war, dann gewinnt der Ausspruch, dass die Jungen sich „nicht zu schämen“ (131) brauchen, denn es „kann passieren, auch bei Erwachsenen“ (134), dass sie nicht den „Mumm“ haben, auszusteigen, einen bitteren Nachgeschmack und löst Widerstand aus.
Denn das Schamgefühl hängt damit zusammen, dass wir uns auf unsere innere moralische Instanz einlassen. Und dass die Jungen in einer Zeit, in der noch kein neues gesellschaftliches Normsystem Orientierung bieten kann, ein moralisches Gewissen haben und Scham empfangen können, ist ein hoffnungsfroher Segen. In der Scham steckt das Potential zur Selbsterkenntnis, weil Scham auftritt, wenn sich die Schattenseiten des Menschen offenbaren. Wenn die Abgründe des eigenen Ichs sichtbar werden. Und vor diesem Schamesspiegel kann ich von mir erkennen, was mir bisher verborgen geblieben ist.
Warum wird dieses Erkenntnispotential durch einen so fragwürdigen Aufruf abgeschwächt, sich nicht zu schämen?
Die Scham des Menschen vor seinem Unvermögen darf auch durch das Erkennen desselben nicht aufgelöst werden, denn fehlende Scham ermöglicht unmenschliches Handeln. Versteht man den Aufruf so, dann besteht die Gefahr zu folgender Lesart: Zwar trägst du Schuld, weil du schwach warst. Aber die Schwäche ist ein menschliches Unvermögen. Und daher brauchst du dich für deine Schwäche nicht zu schämen. Diese Lesart wäre frappierend und verheerend.
Scham für sein Handeln gegenüber anderen zu empfinden, bedeutet daher immer, dass eine innere moralische Instanz besteht. Scham ist also die Folge von Respekt vor dem Anderen und zeugt von Anerkennung der Ich-Wesenheit des Gegenübers. Vor diesem Hintergrund müsste der Aufruf lauten: Halte die Scham aus! Denn die Scham löst einen Entlastungsmechanismus aus, der versucht, die erkannte Schuld zu verdrängen und sich dadurch aufzulösen. Aber das Aushalten der Scham bedeutet, sich seiner Schuld zu stellen und das Erkenntnispotential zur Entfaltung zu bringen. Und darin scheint die zweite Lesart verborgen zu sein. ‚Schäme dich nicht‘, kann auch verstanden werden als: „Lasse den Entlastungsmechanismus der Scham nicht wirksam werden und stelle dich deiner Schuld. Verdränge nicht, sondern handle!“ Ein Aufruf, den der SS-Mann durch die Parallelisierung gleichsam auch der Gesellschaft zuruft, die schweigt und wegsieht. Die Gesellschaft verdrängt die Schuld, weil die Scham nicht ausgehalten und dadurch negativ wirksam wird. Der Scham nicht nachzugeben, sie auszuhalten, ermöglicht es, zur Wiedergutmachung zu handeln. Und die Jungen leisten dies, indem sie Günter aufsuchen und ihre Vergehen gegenüber den Erwachsenen offenbaren. Sie gehen damit einen Schritt, der der Gesellschaft noch bevorsteht – sie stellen sich der Schuld und halten die Scham aus. Das Buch endet mit einem zukunftsweisenden Blick, nicht zu verdrängen, sondern anzunehmen, was unumkehrbar ist.
Halte die Scham aus und stelle dich der Schuld, so könnte man den Ausruf verstehen, der hinter der irritierenden Aussage des SS-Manns steckt. Dieser Aufruf ist für den Einzelnen so wichtig wie für die Gesellschaft. Gestern wie heute. Aber die Scham aufzugeben, ist kein Beitrag zu Ich-Werdung des Einzelnen und der gesellschaftlichen Entwicklung.
Der Schock, den die Lektüre auslöst, birgt das Potential, in eine intensive Auseinandersetzung mit der Schuld, Mitschuld und dem Umgang mit ihr einzusteigen. Für diese Auseinandersetzung bietet das Buch eine couragierte Grundlage.

Für schulische Lesesituationen ist es daher als Zündstoff sehr geeignet, weil eine kritische Lektüre unausweichlich ist und sich durch die Irritation beim Lesen massiv aufdrängt. Aber für unbegleitete Lesestunden ist das Buch aufgrund seines Risikos für eine unangemessene Lektüre nicht geeignet. Schon gar nicht für Jugendliche bzw. Kinder ab 10 Jahren, wie der Verlag vorschlägt. Vor Abschluss des 13. Lebensjahres ist weder das historische noch das moralische Bewusstsein so weit gereift, dass ein solcher Stoff überhaupt aufgenommen und verarbeitet werden kann.

(Jochen Heins, AJuM Hamburg)

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 29.03.2015

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