Von den Sternen am Himmel zu den Fischen im Meer

Autor*in
Thom, Kai Cheng
ISBN
978-3-96042-094-1
Übersetzer*in
Cronauer, Katja Anton
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Ching, Kai YunLi, Wai-Yant
Seitenanzahl
40
Verlag
edition assemblage
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)
Ort
Münster
Jahr
2020
Lesealter
4-5 Jahre6-7 Jahre8-9 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüreVorlesen
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein in leuchtenden Aquarellfarben illustriertes Bilderbuch, das Mut dazu macht, sich auszuprobieren und einfach man selbst zu sein – auch, wenn man damit auffällt und anders ist als andere.

Beurteilungstext

Miu Lan wurde geboren, als Sonne und Mond gleichzeitig am Himmel standen, und kann sich so nicht entscheiden, was er sein möchte: Fisch oder Vogel? Baum oder Stern? Junge oder Mädchen? Sie hat Elemente von allem und wird immer in Sicherheit gewiegt, von seiner Mutter genauso geliebt zu werden, wie sie ist. So trägt Miu Lan mal Pfauenfedern, mal Tigerfell, mal Flügel und mal Fischschuppen und kann sich immer wieder verändern und ausprobieren. Eines Tages kommt Miu Lan in die Schule – und fällt dort sehr auf. Alle anderen Kinder sind entweder Jungen oder Mädchen und tragen Kleidung, keine Federn, Blätter oder Schuppen. Er wird von den anderen Kindern geärgert und kommt traurig nach Hause. Nach einem weiteren gescheiterten Schultag passt sie sich an und kommt als Junge in die Schule. So wird er von den anderen Kindern akzeptiert – aber nur, wenn sie mit den Jungen Baseball spielt. Mit den Mädchen „Himmel und Hölle“ zu spielen ist hingegen tabu. Als schließlich von mehreren Kindern zugleich die Frage gestellt wird, was Miu Lan denn eigentlich sei, explodiert er und ruft laut „Ich weiß es nicht!“ Zuhause fragt sie ihre Mutter, wieso er nicht alles auf einmal sein kann, sondern sich entscheiden muss. Die Mutter bestärkt ihr Kind darin, dass es genauso sein darf, wie es ist, auch wenn das nicht immer leicht ist und nicht garantiert ist, dass die anderen es mögen. Sie singt, wie jeden Abend und insgesamt sechs Mal im Buch, ein Lied mit genau dieser Botschaft. Am nächsten Tag geht Miu Lan stolz mit Blätterflügeln, Schuppen und viel Glitzer zur Schule. Dieses Mal sprechen die anderen Kinder sie an, alle beginnen, gemeinsam zu spielen, und Miu Lan zeigt ihnen, wie sie ebenfalls galoppieren, klettern und schwimmen können.
Für Miu Lan werden in der deutschen Übersetzung immer abwechselnd die Pronomen „sie“ und „er“ verwendet, was in der deutschen Bilderbuchliteratur bislang einzigartig ist; in der englischen Originalfassung ist es durchgehend das Pronomen „they“. Die gesamtgesellschaftlich dominierende Geschlechtskonstruktion, die Geschlecht als eindeutig, binär und zeitlich überdauernd auffasst, wird dadurch sowie durch die Offenheit der Erscheinungsformen von Miu Lan in Frage gestellt und aufgebrochen. Es macht beim Lesen großen Spaß, mitzubekommen, wie frei sich Miu Lan entwickeln und ausprobieren kann, und regt dazu an, einengende Geschlechternormen zu hinterfragen. Dass auch negative Reaktionen des Umfelds auf Verhalten und Erscheinungsformen, die nicht der Norm entsprechen und dadurch als auffällig wahrgenommen werden, gezeigt werden, ist ebenfalls positiv zu werten, da so gesellschaftliche Diskriminierungen aufgegriffen und nicht verschleiert werden. Die Botschaft ist dabei stets, dass man man selbst sein darf, auch wenn andere darauf mit Vorurteilen reagieren.
Illustriert ist das Buch in leuchtend bunten, verträumten Aquarellmalereien, die beim Betrachten den Wunsch aufkommen lassen, selbst in diese Welt mit ihren wunderschönen, verschnörkelten Pflanzen und Fantasietieren hineinschlüpfen zu können. Die Bilder sind weitläufig und erstrecken sich jeweils über eine Doppelseite. Sie sind teils mono-, teils pluriszenisch aufgebaut und sehr kontrastreich gestaltet. Die jeweiligen Stimmungen werden auf Bildebene sehr eindrucksvoll und teils surrealistisch vermittelt, so entsteht beispielsweise aus Miu Lans Tränen ein großer See und als er „Ich weiß es nicht!“ schreit, gehen viele knallbunte Blitze von ihr ab.
Didaktisch bietet das Buch zahlreiche Anschlussmöglichkeiten: Zum einen kann eine Auseinandersetzung mit Pronomen stattfinden, auch in verschiedenen Sprachen. Während im Deutschen bislang für Personen die Pronomen „er“ und „sie“ verwendet werden, die dem männlichen bzw. weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, gibt es beispielsweise im Schwedischen das geschlechtsneutrale Pronomen „hen“ und im Englischen das Pronomen „they“. Auch künstlerisch kann angeknüpft werden, indem die Kinder malen oder anderweitig gestalten können, wie sie jetzt im Moment gern aussehen würden, wenn sie sich ständig verändern könnten und sie wie Miu Lan Glitzer, Fell, Flossen, Federn etc. haben könnten. Natürlich kann das Buch auch sehr gut genutzt werden, um über Geschlechtsidentität und Geschlechterstereotype ins Gespräch zu kommen. So erleben Kinder bereits im Kindergartenalter, dass mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht bestimmte Spiele, Verhaltensweisen und Kleidungsstücke einhergehen, die akzeptiert, und andere, die vom Umfeld abgelehnt werden oder zumindest als auffällig bewertet werden. Das Buch kann eine reflexive Auseinandersetzung damit einleiten und die Kinder darin bestärken, dass sie sich nicht an gesellschaftliche Rollenbilder anpassen müssen, sondern sich ausprobieren und verändern dürfen.
Eine ausgesprochen große Empfehlung!

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Diese Rezension wurde verfasst von Johanna Altmann; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 26.06.2022