Vom Missbrauch der Disziplin - Antworten d. W. auf Bernhard Bueb

Autor*in
(Hrsg.), BRUMLIK
ISBN
978-3-407-85765-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
248
Verlag
Gattung
Ort
Weinheim
Jahr
2007
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
12,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der ehemalige Direktor des Internats Schloss Salem, Bernhard Bueb, hat mit seiner Streitschrift “Lob der Disziplin” für Aufregung gesorgt. Acht renommierte Autoren aus Wissenschaft und Publizistik antworten auf Buebs umstrittenen Bestseller in Aufsätzen über Erziehungswissenschaft, Psychologie und Neurobiologie.

Beurteilungstext

Er hat mit seinem Rundumschlag gegen Eltern, Pädagogen und Psychologen viel Staub aufgewirbelt, der Herr Bueb, und er hat sein Buch mit Hilfe von “BILD” und “FAZ” auf vordere Plätze der Bestsellerlisten katapultiert. Auch das JulimJournal hat ihm und seinen Thesen einen Artikel gewidmet. Nun also “schlägt die Wissenschaft zurück”. Tut sie das wirklich und - muss sie das?
Vorab sei darauf hingewiesen, dass der Rezensent kein ausgebildeter Erziehungswissenschaftler ist, also weder hier noch im Bueb-Artikel fachlich zur Auseinandersetzung qualifiziert ist. Doch da zumindest Buebs Buch rein populärwissenschaftlich angelegt ist und auch die vorliegende “Antwort” populärwissenschaftliche Anteile enthält, soll zumindest der Versuch einer Einlassung gemacht werden. Weiterer Auseinandersetzung steht nichts im Wege.
Die erste Fragestellung beschäftigt sich mit der Zielgruppe Buebs. Stil und Verbreitungsweg lassen vermuten, dass kein wissenschaftliches Lehrbuch und kein Ratgeber für den alltäglichen Erziehungsmarathon geplant war. Das Buch stellt Thesen vor, verkürzt, provoziert, sucht Streit und springt oft “unfachlich” quer durch die Themen. Das wird in dieser Antwort auch - zu Recht - “als wissenschaftlich ungeeignet” gebrandmarkt. Und auch wenn die “Wissenschaft” nicht die Zielgruppe Buebs darstellte, muss er sich doch einer Kritik stellen, denn sein Name und seine frühere Stellung weisen ihm zumindest in Laienkreisen eine fachliche Autorität zu, die er belegen muss. Und natürlich besitzt ein Bestseller in einer Mediengesellschaft auch politischen Einfluss, der hinterfragt werden darf.
Hans Thiersch bezieht sich im ersten Aufsatz vor allem auf die Verkürzungen, die fehlende Diskussion von Thesen und die anscheinende Beziehungslosigkeit zu wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte. Die sehr fachgebundene Sprache, viele Fußnoten und Autorenverweise machen das Lesen nicht einfach, Thiersch beschäftigt sich in erster Linie mit dem, was Bueb nicht erwähnt oder ausspricht.
Ganz anders der zweite Aufsatz von Wolfgang Bergmann. Auch er erschrickt vor der Attraktivität der Buebschen Thesen auch in Pädagogenkreisen. Aber es gelingt ihm, durch sehr praxisnahe Sprache, Beispiele und Bezüge sehr viel intensiver seine Sorge verständlich zu machen, dass eine starke Betonung von Autorität, Disziplinierung und Strafe als Grundwerkzeug gerade keine Erziehung zu Freiheit und Lebenstüchtigkeit möglich sei, sogar der von Bueb ins Feld geführte Antifaschismus ins Gegenteil verkehrt werden kann. Vor allem aber glaubt Bergmann grundsätzliche Verständigungsprobleme zwischen Buebscher Pädagogik und Kindern aus einer heute typischen pluralistischen und mediengeprägten Umwelt zu erkennen. Für ihn ist der Ansatz Buebs ein Trostversuch für frustrierte Eltern und Erzieher, aber kein Entwurf künftiger Erziehungsarbeit.
Den Verdacht auf NS-Nähe betont noch stärker der Herausgeber des Buches Micha Brumlik selbst. Er bezieht aus historischen Vergleichen mit Reformpädagogik und einfachen biografischen Rechnungen die Erkenntnis, dass die Schuldzuweisungen Buebs an Nationalsozialismus und 68er-Generation zwar populär sein mögen, aber einer genaueren Überprüfung nicht standhalten. Wie auch einige der anderen Autoren glaubt er nicht an eine Anwendbarkeit der Ideen außerhalb elitärer Internate im gegliederten öffentlichen Tagesschulsystem.
Sabine Andresen nimmt sich die in ihren Augen patriarchalischen, frauenfeindlichen und ins 19. Jahrhundert zurückführenden Aspekte der Gedanken Buebs vor. Sie weitet ihre Kritik auf bürgerliches Bildungsverständnis, gegliedertes Schulsystem und die fehlende soziale Relevanz in heutigen Familienstrukturen aus und kommt zu dem Schluss, es gehe weniger um Kindererziehung als um “Volkserziehung” zu konservativ-patriarchalischen Ordnungsprinzipien.
Claus Koch zieht Parallelen zwischen Erziehungstheorien des Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit und der Buebschen Anti-68er-Einstellung. Diese beruht nach seiner Meinung, belegt durch Zitate der “Kommune 2”, auf falschen Vorstellungen über antiautoritäre Erziehung, die keineswegs der geläufigen “Kinderladen”-Atmosphäre entsprochen habe.
S. Karin Amos vergleicht Untersuchungen über englische und amerikanische Internate und ihre elitenerhaltende Funktion mit den von Bueb geäußerten Vorstellungen über deren Wirkung.
Aus dem Rahmen der übrigen Aufsätze fällt der neurobiologische Aufsatz Manfred Spitzers, der auf eine auffallend verständliche und - bei allem Sachgehalt - unterhaltsam lesbare Weise den Thesen Buebs neue Erkenntnisse der Hirnentwicklungsforschung gegenüberstellt. Auch Spitzer ist kein Befürworter Buebs, aber er bestätigt, dass viele Ansätze Buebs unter neurobiologischen Aspekten als sinnvoll und brauchbar unterstützt werden müssen. Ihm erscheint nur die Rigidität der Gehorsam/Disziplin/Strafe-Diskussion bei Bueb weit über das Ziel hinaus schießend.
Den Abschluss bildet Frank-Olaf Radtke, der eine sehr differenzierte Bewertung des Machtbegriffes bei Bueb vornimmt und diesen zumindest insoweit unterstützt, dass es Strafen und Konsequenz in der Erziehung braucht, um erfolgreich arbeiten zu können. Ihm scheint allerdings die Ausrichtung der Erziehung auf Effizienz und Erfüllung wirtschaftlicher und industrieller Anforderungen bei Bueb wie in der heutigen Schulsituation nach PISA als einer Entwicklung zu “menschlicher” und demokratischer Erziehung kontraproduktiv.
Dieser kurzgefasste Überblick wird den teilweise sehr ausführlichen Erörterungen sicher nicht gerecht und leidet auch an der Verkürzung, soll aber die Breite der Betrachtungsweisen illustrieren. Leider ist dieser “Antwortband” kaum für den Normalleser geeignet, nur wenige Autoren pflegen eine allgemeinverständliche Sprache. Zur richtigen Einordnung wäre aber eine Lektüre beider Bücher sinnvoll. Die Erkenntnis am Ende wäre klar, aber sehr untypisch für Deutschland, vielleicht für Menschen überhaupt. Keines der beiden Bücher ist ein “Kochbuch” und liefert fertige Rezepte, keines kann auch als neue “Pädagogenbibel” auftreten. Eine Anregung zum eigenen Nachdenken und selbstverantwortlichen Entscheiden bieten sie aber beide und haben insofern ihren Wert. Die Diskussion soll weitergehen!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von bh.
Veröffentlicht am 01.01.2010