Unsichtbare Hände

Autor*in
Tietäväinen, Ville
ISBN
978-3-939080-96-1
Übersetzer*in
Stang, Alexandra
Ori. Sprache
Finnisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
216
Verlag
avant-verlag
Gattung
Comic
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
34,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Für den Traum von einem besseren Leben verlässt Rashid seine Heimatstadt Tanger und nimmt die riskante Überquerung der Straße von Gibraltar in Richtung Spanien auf sich. Doch das vermeintlich irdische Paradies Europa entpuppt sich ihm als Albtraum.

Beurteilungstext

„Das Mittelmeer ist der gefährlichste Grenzübergang der Welt.“ (Bundeszentrale für politische Bildung): Jahr für Jahr versuchen hunderttausende Menschen, meist vom Maghreb ausgehend, über das Mittelmeer das europäische Festland zu erreichen. Seit der Einrichtung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sterben dabei jährlich mehrere Tausend (!), nicht zuletzt, weil aufgrund der rigiden europäischen Abschottungspolitik die Fluchtwege immer länger und gefährlicher werden. Doch selbst denjenigen, denen die Überfahrt gelingt und die der Internierung und Abschiebung entgehen, droht am Zielort aufgrund ihres illegalen Status eine endlose Kette sozialer Diskriminierung, Ausgrenzung und Ausbeutung.

Der Comic Unsichtbare Hände des Autors und Zeichners Ville Titäväinen gibt den vielen Namenlosen ein Gesicht und eine Geschichte, die sich auf berührende und eindringliche Weise dem Unvorstellbaren jenseits und diesseits unserer Grenzen anzunähern versucht: Der Tagelöhner und Schneidergehilfe Rashid versucht, sich und seine Familie in den Armenvierteln der marokkanischen Stadt Tanger über die Runden zu bringen. Da ihm das mehr schlecht als recht gelingt, beschließt er, die illegale Einreise nach Europa zu wagen, um von dort aus seine Familie zu versorgen. Und weil er das für die Überfahrt erforderliche Geld nicht aufbringen kann, verpfändet er das Haus seines Vaters und verpflichtet sich, seine Schulden in den Treibhausplantagen im spanischen Almeria abzuarbeiten. Dort angekommen hadert er immer mehr mit seiner Situation, die er mit unzähligen Flüchtlingen und Papierlosen in Europa teilt. Einerseits sind sie als moderne Schuldsklaven ein unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Schattenwirtschaft; ohne ihre Ausbeutung in den spanischen Gewächshäusern etwa wären die in unseren Discountern zu Tiefstpreisen angebotenen südländischen Lebensmittel kaum denkbar. Andererseits schwebt über ihnen trotz dieses stillschweigenden Einverständnisses immer das Damoklesschwert der Abschiebung. Der Zustand der Illegalität und Rechtlosigkeit macht es ihnen unmöglich, sich gegen die Ausbeutung der Plantagenbesitzer zu wehren und elementare Arbeitsrechte einzufordern, geschweige denn sich gegen die Schikanen der Polizei oder die Angriffe fremdenfeindlicher Anwohner zu verteidigen. Angesichts dieser unwürdigen, unmenschlichen Lebensumstände und verzweifelt über die Trennung von seiner geliebten Frau und der gemeinsamen Tochter verfällt er schließlich dem Wahnsinn und trifft eine schwerwiegende Entscheidung.

Interessanterweise scheint in diesem Comic über Flucht und Migration das literarische/ikonografische Motiv der Grenze auf den ersten Blick eher abwesend zu sein. Kein Zaun wird (symbolisch) überwunden, kein Tunnel führt die Flüchtenden vom bedrückenden Hier zum befreienden Dort, das sich als Licht an dessen Ende schon vorher ankündigt. Stattdessen endet die nächtliche Überfahrt Rashids und seiner Mitreisenden durch die Meerenge von Gibraltar nach deren Entdeckung durch ein Patrouillenboot der Guardia Civil in einem tiefschwarzen Metapanel. Weder wird der genaue Ort des Grenzübertritts markiert, noch stellt sich dessen Gelingen als Moment des Glücks und der Hoffnung dar. Nach dem Überwinden der (unsichtbaren) äußeren Grenze offenbaren sich ihm die inneren, sozialen Grenzen Europas nämlich allzu deutlich als unüberwindlich.

Sowohl die vordere als auch die hintere Buchdeckelinnenseite zeigen jeweils die Zeichnung einer Luftaufnahme des mar del plastico (dt. Plastikmeer). So nennen die Spanier die auf einer gigantischen Fläche aneinandergereihten Gewächshäuser Almerias, in denen zumeist nordafrikanische Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und wohnen. Die Bilder bilden gewissermaßen Prolog und Epilog der Handlung. Rashids Schicksal ist eines von Tausenden. Sie kamen und kommen nach Spanien in der Hoffnung auf ein besseres Leben, doch nur die wenigsten können die rechtlichen, sozialen und kulturellen Hürden überwinden, die sie von der spanischen Mehrheitsgesellschaft trennen. Almeria ist dahingehend ein Sinnbild für die europäische Flüchtlingspolitik: Wo es nicht gelingt oder nicht erwünscht ist, sämtliche Flüchtlinge auszuschließen, müssen sie eben eingeschlossen werden. Unsichtbare Hände bringt dies visuell und erzählerisch auf den Punkt und ist daher ein grandioser Comic. Sein scheiternder Protagonist Rashid lädt den Leser gleichermaßen ein zur mitfühlenden Identifikation und zur Reflexion eines unhaltbaren politischen Zustands.

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Diese Rezension wurde verfasst von mz.
Veröffentlicht am 01.04.2015