Und auch so bitter kalt

Autor*in
Schützsack, Laura
ISBN
978-3-596-85619-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
174
Verlag
FISCHER Schatzinsel
Gattung
Ort
Frankfurt
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Dieses Buch handelt von Lucinda und von ihrer jüngeren Schwester Malina: Eine ergreifende, erschütternde Familiengeschichte über Magersucht und die bitteren Folgen…

Beurteilungstext

Malina vergöttert ihre ältere Schwester Lucinda, bewundert sie und eifert ihr nach. Lucinda erwidert die Schwesternliebe, bleibt aber immer ein bisschen unnahbar, ist unberechenbar und launisch. Und vor allem scheint sie sich langsam aufzulösen, denn Lucinda hat aufgehört zu essen. Auch in diesem Punkt unterstützt Malina sie, wo sie nur kann, nimmt ihr z.B. unter dem Tisch das gekaute Essen wieder ab, damit die Schwester nichts herunterschlucken muss und die Mutter nichts bemerkt. Lucinda provoziert ständig: die Eltern, die Lehrer und auch Jungen, die sich in sie verlieben. Diese macht sie zum Spielball in ihrer eigenen Welt, in die niemand wirklich vorzudringen vermag, auch nicht Malina. So weiß sie beispielsweise nicht, was ihre Schwester im Keller mit den Jungen treibt, die immer völlig überfordert von dort unten wieder auftauchen. Jarvis ist der einzige, der bleibt – bis er sich schließlich an einem Baum erhängt. Dieses Ereignis erzeugt eine Zäsur im Leben der Schwestern – im Roman dargestellt durch fast leere Seiten, auf denen nur wenige Zeilen stehen, und immer wieder das eine Wort: Still. Sie münden schließlich in zwei schwarze Seiten – schwarz, tot, leer, verzweifelt, Ende… kein Aufbruch. Lucinda hört ganz auf zu essen, die Eltern sind völlig überfordert, streiten nur, weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Die Familie zerbricht. All dies schildert Malina fast nüchtern, distanzlos, unreflektiert gebunden an die Liebe zu ihrer Schwester. Sie sieht nichts kritisch, ist fast eins mit ihr, lebt mit ihr im Phantasieland „Tenebrien“, das Lucinda erfunden hat. Gerade diese Distanzlosigkeit ist es, die den Leser erschüttert. Erzählt wird in klarer, schnörkelloser Sprache, mitreißend und ergreifend. Dialoge und wörtliche Rede sind dominant, mit ihnen wird kommentarlos erfasst, was sich in der Familie abspielt. Dem Leser ist, als würde er unmittelbar in das Geschehen hineingezogen, und er erstickt beinahe mit an der familiären Verzweiflung. So kann er in einen atemlosen Lesesog geraten. Das Porträt der Familie ist tiefenpsychologisch stimmig, bestürzend authentisch und zuweilen auch lyrisch, wenn z.B. immer wieder verwiesen wird auf Zitate von Janis Joplin, die Lucinda verehrt, wie ihr überhaupt Musik sehr wichtig ist. So ergibt sich ein intertextuelles Spiel mit Musikzitaten. Symbolische Bedeutung hat die Katze, die Lucinda von ihrem verzweifelten Vater geschenkt bekommen hat. Das Mädchen liebt das Tier, das aber auch verschwindet, wieder auftaucht, Mäuse jagt und zu Tode bringt und im Kampf mit anderen Katzen der Umgebung beinahe selbst umkommt – wie Lucinda selbst.
Am Ende hat sich Lucinda beinahe zu Tode gehungert, der Vater ruft den Krankenwagen, und doch bleibt das Ende offen. Malina sieht ihre Schwester mit ihrem Koffer durch das Gartentor gehen.
Die Berliner Autorin Laura Schützsack (Jahrgang 1981) hat mit ihrem Romanerstling ein fulminantes jugendliterarisches Debüt vorgelegt. Der Roman ist wegen seiner Erzählkraft so besonders, wegen der klaren Worte, mit denen das bittere Familien-Kaleidoskop entworfen wird. Durch die Bindung an die Erzählperspektive Malinas wird der Leser unmittelbar einbezogen in das System der zerbrechenden Buchfamilie. Das ist schmerzhaft, teilweise am Rande des Erträglichen, aber gerade darum gut. Keine Belehrung von außen, kein moralisch erhobener Zeigefinger, sondern Erzählung mitten aus dem jugendlichen Erleben heraus. Und es bleiben viele Leerstellen: Warum etwa bringt sich Jarvis um? Warum ist Lucinda eigentlich so grausam und kompromisslos? Was tut sie mit den Jungs im Keller? Wo geht sie am Ende hin?
Der Roman lässt den Leser mit diesen Fragen allein, weshalb der Text auf Vermittler und Anschlusskommunikation angewiesen ist. Allein lassen sollte man jugendliche Leser mit diesem Buch besser nicht.

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Diese Rezension wurde verfasst von kku; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 23.06.2016