Toxische Macht

Autor*in
Linker, Christian
ISBN
978-3-423-23024-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
332
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Braucht Deutschland - nicht zuletzt durch die Klima- und die Coronakrise ohnehin in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess begriffen - eine neue politische Bewegung; eine Partei jenseits der "klassischen" Links-Rechts-Schemata? Braucht das Land einen partizipativen politischen Aufbruch und kann ein solcher gelingen? Braucht es "FUTURE"? Linker beantwortet die Frage mit einem eindeutigen Ja und liefert einen fesselnden Polit-Thriller zu diesem Thema.

Beurteilungstext

Constanze Frahm, genannt Coco, aus Leverkusen ist 24, hat einen Bachelorabschluss in VWL in der Tasche - und steht laut aller Prognosen unmittelbar davor, die nächste Bundesregierung als Kanzlerin anzuführen. Der Roman schildert den Aufstieg der neuen Partei "Future", der es innerhalb kürzester Zeit gelingt, sich als politische Alternative zu allen etablierten Parteien aufzustellen und Menschen für ihre Angebote und Ziele zu begeistern. Vor allem jüngere Bürger fühlen sich angesprochen, aber nicht ausschließlich - Future gelingt es, unterschiedliche Bevölkerungsschichten zu mobilisieren. Der Aufstieg der neuen Partei wird in erster Linie an Coco dargestellt, die - auch für sie selbst überraschend - zum weiblichen Part der Doppelspitze gewählt und bald darauf zur Kanzlerkandidatin gekürt wird. Future baut auf der "Fridays for future"-Bewegung auf; die meisten der treibenden Kräfte der Partei waren zuvor dort aktiv. Daher ist es auch wenig überraschend, dass Klima- und Umweltschutz sowie Nachhaltigkeit Eckpunkte des Parteiprogramms bilden. Auch andere Themenkomplexe, die üblicherweise dem linken, linksliberalen bzw. grünen politischen Spektrum zugerechnet werden, sind für die neue Bewegung zentral: Gendergerechtigkeit, sozialer Ausgleich, eine Außenpolitik mit dem Fokus auf Frieden und Verständigung sowie eine affirmative Haltung zum Thema Migration. Allerdings fügt Future einen entscheidenden neuen Aspekt hinzu, der viele Menschen überzeugt und der aus Einsichten aus der Corona-Pandemie resultiert: eine radikale Entschleunigung, eine Aufwertung von Achtsamkeit und gegenseitiger Fürsorge, kurz "die neue Langsamkeit". "Und dann kam das Virus und hat beim Planeten die Pausentaste gedrückt. Jetzt erholen wir uns langsam davon und stehen vor der Wahl: Machen wir weiter wie vorher? Oder erfinden wir uns neu?" (S. 48f.) Coco bringt diesen Aspekt in die Diskussionen auf dem Gründungs-Barcamp ein und katapultiert sich damit selbst an die Spitze. Ihre Redegewandtheit, die Aufrichtigkeit und der Mut, auch unbequeme Positionen zu vertreten; sicherlich aber auch die natürliche Ausstrahlung der "Frau mit dem Hut" machen sie zur politischen Hoffnungsträgerin. Vor allem junge Menschen engagieren sich in der Partei und fühlen sich von ihr angesprochen; zunehmend gelingt es aber auch, andere Schichten einzubinden und die etablierten Parteien in die Enge zu treiben.
Linker begleitet die Protagonisten über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren hinweg. Es wird durchweg in einer auktorialen Perspektive erzählt. Die inhaltliche Klammer ist das Wiedersehen von Coco und Maikel, ihrem ehemaligen Freund, am Vorabend der Bundestagswahl. Von dort aus werden ausgedehnte Rückblicke unternommen, die die Beziehung der beiden parallel zur Entwicklung ihres politischen Engagements und ihrer Einstellungen schildern. Dabei wird sichtbar, welch unterschiedliche Entwicklungen sie genommen haben. Coco wird zum "Politstar". Maikel, der sie anfangs vorbehaltlos unterstützt hat, wendet sich zunehmend von ihr als Person, aber auch von den Zielen und Werten von Future ab. Ersteres hat unter anderem mit Cocos Fremdgehen zu tun. Wesentlich wichtiger für die Struktur des gesamten Romans aber ist seine weltanschauliche "Kehrtwende". Maikel kommt in Kontakt mit Herrn Posch und dessen "Abendland Akademie", einer Art neurechten Think-Tank. Anfangs abgestoßen, fasziniert ihn schnell, wie Posch scheinbare Selbstverständlichkeiten des Milieus, aus dem Maikel stammt, hinterfragt; den "Abgehängten" des angeblichen "linken Mainstreams" eine Stimme gibt und Alternativideen anbietet. Vor allem das Männlichkeitsbild, dass von Posch und seinen Leuten transportiert wird, spricht Maikel mehr und mehr an: "Wir versuchen, auf jede nur denkbare Gruppe einzugehen, ..., auf lesbische muslimische Veganerinnen, auf intersexuelle Neotrotzkisten ... Bloß eine Gruppe ignorieren wir. Die der nichtbehinderten heterosexuellen weißen Cis-Männer." (S. 162), wirft er Coco vor. Lange nach der Trennung von Coco lässt sich Maikel schließlich beinahe für einen Mordanschlag auf Coco instrumentalisieren.
Christian Linker ist für seine politisch brisanten Romane bekannt, die sich aktueller Themen annehmen. Schon in "Der Schuss" von 2017 geht es um Rechtspopulismus und das Aufzeigen von Alternativen. Mit "Toxische Macht" gelingt ihm ein fesselndes Buch, welches einen sehr nachvollziehbaren Diskurs zur gegenwärtigen politischen Lage eröffnet und mögliche Entwicklungen skizziert. Die große Stärke des Romas ist die plausible Schilderung des Entstehens einer für unmöglich gehaltenen politischen Kraft und die Leidenschaft, mit der das Werden politischer Ideen und deren Übertragung in die Praxis erzählt werden. Was für Menschen aus welchen Beweggründen Protagonisten solcher Entwicklungen werden, stellt der Autor in eingängiger Weise dar. Dabei gelingt es ihm, auch "Nebenfiguren" lebendig und anschaulich zu gestalten, und er verschweigt nicht die Gefahren und Abgründe, die sich für die Handlungsträger auftun - so z.B. Cocos Überlastung und ihr drohender Burn-Out. Sehr anregend ist auch das Ernstnehmen unterschiedlicher, konträrer, sehr komplexer Sichtweisen; es wird nichts unzulässig vereinfacht und es gibt auch nicht "die eine richtige Meinung". Die persönliche Liebes- und Leidensgeschichte zwischen Coco und Maikel fällt ein wenig dagegen ab; vor allem ist die sehr rasche Kehrtwende von Maikel vom Mitstreiter und Geliebten zum ideologischen Feind und "Beinahe-Mörder" zwar plausibel erklärt, aber zu rasch vollzogen.
Trotz auch anderer kleinerer struktureller Schwächen ist der Roman in hohem Maße empfehlenswert und kann ausgezeichnet in den Unterricht ab Klasse 11 eingebunden werden.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 27.07.2021

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