Struwwelpeters Rückkehr
- Autor*in
- Enzensberger, Hans Magnus
- ISBN
- 978-3-446-26804-3
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- Kuhl, Anke
- Seitenanzahl
- 50
- Verlag
- Hanser
- Gattung
- BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
- Ort
- München
- Jahr
- 2020
- Lesealter
- 8-9 Jahre10-11 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- –
- Preis
- 16,00 €
- Bewertung
Teaser
Eine Neuinszenierung des Struwwelpeters mit ganz anderen Vorzeichen als im Hoffmannschen Original.
Beurteilungstext
Dramatische Texte sind in der Kinderliteratur - zumindest als Kinderbuch - eher selten. Enzensbergers Text kommt konsequent als dramatischer Text daher: Besetzungsliste, Szenenfolge, Regieanweisungen und usw. begleiten den Kern, die gereimten Mono- und Dialoge.
Wichtigste Figur ist Dr. Heinrich Hoffmann, der als Erzählfigur auftritt und den größten Sprechanteil hat, bisweilen übernimmt er auch (so die Regieanweisung) die Sprechrollen anderer Figuren. Ansonsten kommen vor: Struwwelpeter, Fliegender Robert, Suppenkasper, der wilde Jäger und sein Sohn, der böse Friedrich, Paulinchen, Konrad der Daumenlutscher und der Zappelphilipp. Alles also ganz nah am Original? Ersetzt man schwarze Pädagogik durch schwarzen Humor, dann vielleicht. Denn bitterböse bleibt es auf Textebene: Kinder verbrennen (scheinbar), Daumen werden abgeschnitten usw. Ja doch, es ist etwas harmloser als im Original, aber die Geschichten sind tiefgründig zersetzend und bisweilen heilend - und dann wieder gar nicht "kindgerecht":
Ich weiß nicht, ob man's glauben kann:
Der Daumen wuchs ihm wieder an.
Der Finger heilte derart flugs,
sodass er immer weiterwuchs,
Bis dass, zum Glücke, lieber Himmel,
sein kleiner Spatz glich einem Pimmel.
Das wirkte ziemlich unverschämt.
...
Enzensberger ist offensichtlich nicht bereit, es Eltern und Pädagog*innen einfach zu machen mit seinem Text. Und den Kindern vielleicht auch nicht. Und doch können alle auf ganz unterschiedliche Weise in den Zeilen und zwischen den Zeilen, in dem Text und zwischen diesem Text und anderen Texten lesen, denken, nachdenklich werden.
Würde dieses Buch nur Enzensbergers Text enthalten, könnte man denken: Lass den alternden Intellektuellen doch seine Texte schreiben, liest eh kein Mensch, kein Kind. Abgesehen von den wenigen altgetreuen Enzensbergerleser*innen. Aber dieses Buch ist eben nicht nur von Enzensberger, sondern auch von Anke Kuhl. Ihre Illustrationen beleben das "Stück". Sie inszenieren im wahrsten Sinne des Wortes den Text als Theater. Mal expliziter, mal impliziter ist die Handlung auf eine Bühne gesetzt und wir sind das Publikum, werden damit Teil der Inszenierung, denn wir, das Publikum, kommt explizit in Regieanweisungen vor. Anke Kuhl setzt nicht (nur) um, was Enzensberger schreibt, sie ergänzt oder konterkariert auch mal, was im Text zu finden ist. Um auch dies am Beispiel von Konrad Daumenlutscher zu veranschaulichen: Während wir auf Textebene an ein Wunder glauben müssen (der Daumen wächst wieder nach), erzählen 7 Bilder comicgleich in Panels angeordnet das Geschehen. Der Trick des nicht abgeschnittenen Daumens wird so als Theatertrick entlarvt, der richtige war „weggeklappt“, wird einfach wieder aufgeklappt, der große Daumen kommt an einem Faden von oben angeschwebt und wird über den Daumen gestülpt.
Oder: Im Text lesen wir, dass Friedrich Frauen an die Brüste grapscht - das sehen wir auch im Bild. Im nächsten Bild sehen wir auch, dass die Frau Friedrich zwischen die Beine tritt. Das steht nicht im Text.
Konsequent ist die Inszenierung als "Klassenspiel", denn alle Schauspieler*innen und auch die Musiker*innen sind Kinder. Bisweilen kommentieren diese Kinder auch im Bild, was auf der Bühne geschieht, etwa wenn Friedrichs Bein blutet, sagt ein Kind auf der Bühnenleiter: "Bloß Ketchup". Ohne die Bilder von Anke Kuhl mag Enzensbergers Text wohl funktionieren - durch die Inszenierung auf bildlicher Ebene wird jedoch mindestens genauso viel Sinn und Zwischensinn (und Unsinn) hergestellt.
Und zum Abschluss: Struwwelpeter, das geht nicht ohne Moral. Und so lässt Enzensberger Dr. Hoffmann am Ende deklamieren:
Meine allerliebsten Kinder
und die Eltern auch nicht minder,
ich hoffe, dass ihr auf mich hört
und dass ihr euch nicht stören lasst,
von allem, was euch gar nicht passt.
Meinetwegen, seid empört,
lasst euch nie den Mund verbieten!
Widerworte sind gesund.
Sonst kann es niemals geben
ein Glück und Happy End im Leben.