Stechmückensommer
- Autor*in
- Wilke, Jutta
- ISBN
- 978-3-95728-105-0
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- –
- Seitenanzahl
- 208
- Verlag
- Knesebeck
- Gattung
- Buch (gebunden)Erzählung/Roman
- Ort
- München
- Jahr
- 2018
- Lesealter
- 10-11 Jahre12-13 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- –
- Preis
- 15,00 €
- Bewertung
Teaser
Madeleine ist 13 Jahre alt, zum ersten Mal in ihrem Leben verbringt sie ihre Ferien nicht mit den Eltern oder bei der Oma. Doch in dem Feriencamp in Schweden erlebt sie dasselbe wie in der Schule: Alle hänseln sie wegen ihrer Körperfülle, sie grenzen sie aus, ärgern sie wegen ihrer Kleidung.
Beurteilungstext
Bereits bei der Überfahrt wird Madeleine, aus deren Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, klar, dass sie auch hier in der kleinen Gruppe aus bunt zusammengewürfelten Jugendlichen – im Alter von 12 und 15 Jahren - die angesagte Außenseiterin sein wird. Die Teamleiterin Svenja bringt sie in der Hütte der jüngeren Mädchen unten, von denen zwei sich bereits gut kennen und das dritte Barbie-Puppen als Heimweh-Bekämpfungsmittel mitgebracht hat. Die älteren Mädchen zwischen 14 und 15 Jahren nennen sie Made wegen ihrer Figur und ihres Aussehens. Madeleine ist todunglücklich und wäre viel lieber bei ihrer Oma geblieben, während ihre Eltern eine Geschäftsreise des Vaters nutzen, um über den Verlust des vor einem Jahr totgeborenen Bruders hinwegzukommen. Aber ihre Mutter hat entschieden, dass ein Feriencamp in Schweden Madeleine guttun würde. Schon lange fühlt sich Madeleine von ihrer Mutter nicht mehr verstanden, zumal diese eine tolle Figur hat, während sie sich als dick bezeichnet und von den Mitschülern und den Mitcampern eben wegen ihrer Körperfülle gehänselt wird. Madeleine hat keinerlei Selbstbewusstsein oder -wertgefühl, sie nimmt die abfälligen Bemerkungen und Blicke ihrer Mitmenschen auf und verinnerlicht sie gewissermaßen als ihr Profil.
Zu Beginn der Geschichte klagt sie über dauerhafte Kopfschmerzen, die auch mit dem Kauf einer Brille nicht besser geworden sind. Sie schafft es nicht, ihre Unzufriedenheit, ihre Unsicherheit und ihr Selbstmitleid in dem neuen Kontext der Feriengruppe abzulegen, auch hier gerät sie schnell in die Rolle der Außenseiterin. Dabei erkennt sie messerscharf die Fehler der cool wirken wollenden Mädchen und der jungen Teamleiter, die den Ausflug nach Schweden nutzen, um die eigenen Bedürfnisse auszuleben. Ein Besuch in einem stillgelegten Bergwerk, das ein Teil der Gruppe nur wandernd erreichen kann, während die anderen es mit dem für die Gesamtgruppe zu kleinen VW-Bus erreichen, stellt die erste Herausforderung in Sachen Teamfähigkeit für Madeleine und die anderen dar. Bereits während der Fahrt wird ihr deutlich gemacht, dass sie durch ihre Körperfülle die Mitfahrer einengt, nach den ersten Metern im Innern der Höhle ist der Rest vorausgestürmt und sie sich selbst überlassen. Eine Panikattacke lässt sie zum Eingang zurückkehren, sie nimmt kurzentschlossen den Busschlüssel aus der Aufbewahrung und rollt sich im Bus zusammen, um dort auf die anderen zu warten.
Vom Rumpeln des Busses wird sie geweckt, aber nicht einer der Teamleiter lenkt den Bus, sondern ein Junge, der nicht viel älter als sie sein mag und einen bunt gefärbten Irokesenschnitt trägt. Auf ihre ersten Versuche, diesen Jungen zur Umkehr zu bewegen, reagiert der völlig unbewegt und fährt weiter. Madeleine ahnt, dass der Rest ihrer Gruppe zunächst den Bus vermissen wird, weil sie alle zum Camp zurücklaufen müssen, und erst dort feststellen, dass sie auch fehlt. Polizei- und Suchaktionen scheinen tatsächlich nicht stattzufinden, denn bei einem späteren Telefonat mit ihrer Oma ist diese über ihr Verschwinden informiert, aber mehr erfährt der Leser nicht.
Nach und nach werden die beiden Jugendlichen miteinander vertraut, Julian, Juli genannt, erzählt, dass seine Eltern ihn bei einem Freund im Bayerischen Wald wähnen, er aber ein Versprechen für seinen kürzlich an Krebs verstorbenen Opa einlösen muss, an dessen Geburtstag, Mittsommernacht, am Nordkap zu sein. Von seinem Opa hat er auch das Autofahren gelernt, denn ursprünglich wollten beide diesen Tripp unternehmen, aber die Krankheit hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Madeleine erkennt bald, dass auch Juli ein Außenseiter ist, die Pflege seines kranken Opas hat ihn völlig eingenommen. Viel wichtiger ist für sie, dass er ihr gegenüber keine Äußerungen über ihr Aussehen macht, dass er sie akzeptiert, wie sie ist, und es genießt, sie mit seinen Fahr- und Navigationskenntnissen zu beeindrucken. Spannungsfrei ist die Fahrt jedoch nicht, zum einen stehen sie unter Zeitdruck, weil es bis zum Nordkap noch weit und mit dem alten Bus innerhalb zwei Tagen kaum zu schaffen ist, weil sie zum anderen die Hauptstraßen meiden müssen, denn Juli hat den Bus gestohlen und Madeleine gewissermaßen entführt. Unglücklicherweise verliert Juli seine Geldbörse, weshalb sie einen ‚Ausflug‘ zu einem Campingplatz durchführen. Auf der Weiterfahrt stellen sie plötzlich fest, dass sie zu dritt sind – Vincent, ein 16-jähriger Junge mit Down-Syndrom, strahlt ihnen aus der letzten Busreihe entgegen und weigert sich, auszusteigen. Die Zeit drängt und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in neuer Formation die Fahrt fortzusetzen.
Die Geschichte greift viele Themen der modernen Gesellschaft auf: Da ist die Pubertierende, die wegen ihrer Körperfülle ausgegrenzt wird und keinerlei Selbstwertgefühl entwickelt, der Enkel, der seinen krebskranken Opa pflegt und deshalb nicht mehr die Schule besucht, dann als Analphabet ‚entlarvt‘ wird, der lebenslustige Junge mit Down-Syndrom, der weniger an den Symptomen seiner Einschränkung als an den Reaktionen der Mitmenschen leidet. Ihnen gelingt es, für einen kurzen Zeitraum all die negativen Erfahrungen auszublenden und sich aufeinander einzulassen, das Leben so zu genießen, wie es sein könnte. Das Ende des Buches wirkt wie ein ‚Cut‘, zurück bleibt eine eher unbefriedigende Leere, auch wenn der Epilog die Anerkennung des Ichs durch die Protagonistin vermittelt. Der Klappentext verkündet Abenteuer, doch diese halten sich deutlich in Grenzen, schön sind die Landschaftsbeschreibungen, aber auch diese ergeben sich erst in der zweiten Hälfte des Buches. Insgesamt bleiben viele Fragen offen, was die tolle Idee des Buches etwas schmälert. Dennoch bietet es eine gute Diskussionsbasis über die Gestaltung des Miteinanders und den Umgang mit Menschen, die anders sind als ‚die Norm‘.