Sieben Minuten nach Mitternacht

Autor*in
Ness, Patrick
ISBN
978-3-570-15374-1
Übersetzer*in
Abarbanell, Bettina
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Kay, Jim
Seitenanzahl
213
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2011
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
16,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Conor O’Malley wacht schweißgebadet auf. Der Albtraum, der ihn mit Finsternis und Hilflosigkeit quält, hatte ihn wieder fest im Griff. Es ist sieben Minuten nach Mitternacht, als er aufschreckt. Aber Conor weiß, dass der Albtraum damit noch nicht enden wird. Denn seit seine Mutter erkrankt ist, besucht ihn auch jenseits der Träume ein Monster. Ein Monster, das von ihm Unmögliches verlangt: die Wahrheit. Ein leises Buch über das Abschiednehmen und die wunderbare Kraft des Geschichtenerzählens.

Beurteilungstext

Mit “Sieben Minuten nach Mitternacht” (“A Monster Calls”) greift Patrick Ness eine Idee seiner verstorbenen Schriftstellerkollegin Siobhán Dowd auf. Dowd, die 2007 einem Krebsleiden erlag und deren preisgekrönte Jugendbücher schon weltweit ihre Leser verzauberten, hatte bereits ein detailliertes Exposé zum Roman verfasst, der ihr fünfter hätte werden sollen. Bereits in der Vorbemerkung weist Ness deshalb darauf hin, dass er weder beabsichtigte noch es vermochte, “den Roman in Siobhans ureigenen Ton zu schreiben”, dass er jedoch von Anfang an das Gefühl hatte, als sei ihm “ein Staffelstab in die Hand gedrückt worden”. Die Geschichte, die er so gemeinsam mit Siobhán Dowd erdacht hat, ist daher nun bereit, an die Leser zu gehen und mit ihnen weiter zu wachsen. “Jetzt seid Ihr dran. Lauft los. Stiftet Unruhe”, so Ness’ Appell, bevor die Lektüre beginnt.

Und in der Tat, “Sieben Minuten nach Mitternacht” ist ein unruhiges Buch - im besten Sinne, denn es ist bewegend und tiefgründig zugleich: Conor O'Malley lebt mit seiner schwer krebskranken Mutter allein nahe der Kirche in einer kleinen Stadt. Seine Eltern sind geschieden, der Vater hat inzwischen eine neue Familie in den Vereinigten Staaten gegründet. Mit der Großmutter verbindet Conor wenig, und auch in der Schule hat er kaum Freunde. Die meisten Kinder meiden ihn oder machen sich über die Krankheit der Mutter lustig. Doch das ist keineswegs Conors einziges Problem.

In jeder Nacht wird er von einem Albtraum gequält, in dem eine schreckliche Finsternis seine Mutter zu entreißen droht. Kurz bevor dies jedoch der Finsternis gelingt, erwacht Conor schweißgebadet genau sieben Minuten nach Mitternacht. Damit findet das Grauen aber noch lange kein Ende. Denn seit sich der Gesundheitszustand seiner Mutter dramatisch verschlechtert hat, erhält der Junge nun auch in der wirklichen Welt Besuch von einem Ungeheuer. Einem Ungeheuer, das ihn in Gestalt einer riesigen lebendig gewordenen Eibe aufsucht.

Dieses Monster lässt Conor wissen, dass es allein seinetwegen gekommen sei. Und auch, dass es sich nicht oft auf den Weg macht - nur, wenn es um Leben oder Tod geht. Das sei bei Conor der Fall, weswegen es ihm, will er gerettet werden, einen Tausch anbietet. In drei Nächten wird es ihm jeweils eine Geschichte erzählen, denn “Geschichten sind das Gefährlichste von der Welt” (S. 45). In der vierten Nacht muss Conor dann aber seinerseits dem Ungeheuer eine Geschichte anbieten. Diese vierte Geschichte “wird die Wahrheit sein” (S. 46), Conors Wahrheit. Nur widerwillig lässt dieser sich auf den Tauschhandel ein, denn in anbetracht der Klauen und des riesigen Mauls seines Gegenübers hat er gar keine andere Wahl als zuzustimmen, den Erzählungen des Monsters zu lauschen und seine eigene zu finden.

Die drei Geschichten des Ungeheuers bilden nunmehr im Weiteren das metaphorische Korsett für die Rahmenerzählung, denn in jeder von ihnen geht es in recht unterschiedlicher Perspektive um Schein und Anschein, Urteil und Vorurteil, Trug und Selbstbetrug. Dabei entführt der nächtliche Besucher Conor stets als Beobachter in die einzelnen Sequenzen und ermuntert ihn, sich in deren Verlauf einzumischen. Doch das bleibt nicht folgenlos. So zertrümmert Conor in einer der Geschichten das Haus eines Pfarrers, nur, um danach zu erkennen, dass er das Wohnzimmer seiner Großmutter verwüstet hat. Ähnliches geschieht, als er einen Mitschüler krankenhausreif prügelt.

Wirklichkeit und Traum verwischen für Conor immer häufiger. Und je stärker er vor der Wirklichkeit zu fliehen versucht, desto deutlicher wird dem Leser, dass alles, was geschieht, mit der Krankheit der Mutter in Zusammenhang steht. So wird dann auch die vierte, Conors eigene Geschichte zum Handlungshöhepunkt: Gemeinsam mit ihm und dem Ungeheuer wird der Leser in Conors Albtraum gestoßen und erlebt dort den verzweifelten Kampf des Jungen, seine Mutter nicht loszulassen, sie nicht einer alles verschlingenden Finsternis preiszugeben. Am Ende gelingt es ihm nicht, sie zu halten. Die Mutter stürzt in die Tiefe, der Junge bleibt zurück.

Es ist das dunkle Bild des Selbstvorwurfes und der Selbstzuweisung von Schuld, das hier zum Tragen kommt. Als die Finsternis danach auch nach Conor ausgreift und ihn zu verschlingen droht, stellt ihn das Ungeheuer, das sich nunmehr als nichts weniger als das Leben selbst zu erkennen gibt, im Rückgriff auf seine drei Geschichten vor die alles entscheidende Wahl: Sich entweder die Wahrheit einzugestehen, nämlich nichts für die Erkrankung und das Sterben der Mutter zu können, oder sich in unauflösbarer Trauer, Selbstmitleid und Handlungsunfähigkeit selbst aufzugeben. Conor trifft seine Entscheidung. Er entkommt dem Albtraum und begleitet seine Mutter im Krankenhaus auf ihrem letzten Weg. Sieben Minuten nach Mitternacht hält er sie ganz fest. “Und so konnte er sie endlich loslassen.” (S. [214])

Ein Abschiednehmen ohne Zorn und ohne falsche Verantwortungsübernahme schließt sensibel den Kreis dieser leisen Erzählung, in der offen bleibt ob und wie Conor den Weg zurück ins Leben findet. Der melancholische Ton von “Sieben Minuten nach Mitternacht” gewinnt zusätzlich durch die stillen, mitunter schwermütigen Aquatinta-Radierungen Jim Kays, die Ness’ und Dowds “Staffelstab” noch einmal auf ganz eigene Weise erlebbar werden lassen. Ein trauriges Buch. Ein großartiges Buch.

Empfehlung: “Sieben Minuten nach Mitternacht” wendet sich behutsam und literarisch auf hohem ästhetischen - nicht ästhetizistischem - Niveau dem Thema Sterben und Abschiednehmen zu. Die Erzählung beschreibt ohne Plattheiten oder Klischee beladenem Ton den Selbstbetrug von Sterbenden und Angehörigen mit besonderem Blick auf eine Eltern-Kind-Situation. Die dabei vor allem für einen Heranwachsenden entstehenden Konflikte werden ernst genommen und mit Sorgfalt und Geduld in das Gebäude der Erzählung einbezogen. Für mittlere und größere Bibliotheksbestände aufgrund der Thematik wie auch der Art der literarischen Verarbeitung nicht nur im Jugendbuchsegment eine Anschaffung wert.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von HSM.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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