Reise ins Innere der Stadt

Autor*in
Tan, Shaun
ISBN
978-3-8489-2118-8
Übersetzer*in
Schönfeld, Eike
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Tan, Shaun
Seitenanzahl
288
Verlag
Aladin
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Stuttgart
Jahr
2018
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
28,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Tiere bevölkern die monströse Stadt, und die Menschen werden unsichtbar.

Beurteilungstext

„Das Nashorn war wieder auf der Autobahn“, heißt es im Nashornkapitel auf Seite 209. „Wir hupten empört! Männer kamen, schossen es, schoben es auf den Seitenstreifen. Wir hupten dankbar.“ Wer ist gemeint mit diesem Wir? Natürlich wir alle, die wir Tag für Tag im Auto sitzen und uns ärgern, wenn uns ein Nashorn oder irgendetwas anderes den Weg versperrt. Im Gegensatz zum Nashorn sind wir austauschbar, gesichtslos wie die Autos, in denen wir sitzen, um zur Arbeit zu fahren, gesichtslos wie die Wohnungen, in denen wir leben, wie die Büros, in denen wir an Schreibtischen sitzen, um zu tun, was man uns aaufgetragen hat, gesichtslos wie die Straßen und Wege, die wir begehen, gesichtslos wie der Musikant, der irgendwo in einem Tunnel sitzt und spielt, derweil auf der Straße über ihm zwei riesige Schnecken ihr Paarungsspiel vollziehen. Das Nashorn ist tot, der Verkehr rollt wieder, wir freuen uns. „Doch das war gestern. Heute geht´s uns allen furchtbar. Keiner wusste, dass es das letzte war. Woher hätten wird das auch wissen sollen?“
In seinem vorletzten bei Aladin erschienen Buch „Die Regeln des Sommers“ sehen wir noch Augen, Nasen und Münder, immerhin. Doch die genannten Regeln, zum Beispiel „Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen“, sind im Angesicht der drohenden Gefahr absurd. Die Natur gerät aus den Fugen, Tod und Verderben lauern überall, am Ende gibt es aber noch ein bisschen Trost, wenn wir verstehen, dass die Bilder der Fantasie von Kindern entsprungen sind. In „Reise ins Innere der Stadt“ ist die Bedrohung ungreifbar und real, sie geht allerdings vom Menschen aus, von seiner Unfähigkeit, das Leben menschlich und gerecht zu organisieren und die Natur nicht nur als Quelle des Profits, sondern als gleichberechtigt zu akzeptieren und zu behandeln, was im Bärenkapitel – „Bären mit Anwälten“ – eindrucksvoll geschildert wird. Die Menschen sind hoffnungslos verloren, insofern ist nur konsequent, wenn der Autor die Geschöpfe der Natur als Hoffnungsträger zeigt, zum Beispiel die Krokodile im siebenundachtzigsten Stock. „Die Krokodile, na, die leben seit Millionen Jahren hier an dieser Stelle, und ich wette, die sind noch hier, lange nachdem der Verkehr sich in den Schlamm zurückgebohrt hat und wir nackten Affen unser letztes Meeting beschließen, Bankrott erklären und weiterziehen, wie nackte Affen das eben tun.“ Es gibt zwar ein Gefühl von Glück, doch nur, wenn uns die Schmetterlinge besuchen, und zwar „… in einer Menge, die jede Zählbarkeit überstieg ... Und diesen kürzesten aller Augenblicke lang, Gesichter und Handflächen himmelwärts, fragten wir nicht nach dem Grund. Das Geschwätz in unseren Köpfen verstummte, der endlose Lochstreifen des Off-Kommentars, der alles ständig nach Ursache und Wirkung, Zeichen und Symbol, irgendeinem Sinn, Wert oder Omen auseinandernimmt – das alles hörte einfach auf, als die Schmetterlinge zu uns kamen.“ Doch die Schmetterlinge fliegen wieder weg und lassen uns in grenzenloser Traurigkeit zurück. Natürlich gibt es noch den Hund, der uns versteht, die Katze, die uns aus der Einsamkeit rettet, die Schneeeule, die am Krankenbett sitzt und über uns wacht, den Fuchs, den Adler, den Papagei, die Fliege, die Taube, das Nilpferd oder den Yak, den wir besteigen können, winzige Menschen auf einem Berg aus Fell. Wir sehen Tiere, Tiere, Tiere, doch diese Tiere sind autonom und haben allen Grund, uns zu meiden, sonst ergeht es ihnen wie dem Mondfisch, der irgendwo in einem Kellerloch geschlachtet, oder wie dem Orca, der dem Meer entrissen und in den Himmel erhoben wird. „Er war so schön da oben, so anregend. Aber die Rufe der Mutter wollten nicht aufhören. Ihre Unterschallwellenlänge aus dem kalten, fremden Meer durchdrang Beton und Stahl, jedes Stadtgetöse, hallte durch Röhren und Abwasserkanäle, hielt uns die ganze Nacht wach und brach uns das Herz.“
So traumhaft und surreal die Bilder, so eindrucksvoll und wuchtig die Botschaft: Wir alle sind verantwortlich für das, was auf der Welt geschieht. Doch wer ist dieses Wir? Einfach alle ohne Unterschied? Der Mensch an sich, der immer dann in seiner Gesamtheit angeklagt oder aufgerufen wird, wenn es darum geht, den Blick auf die Ursachen einer Wirkung zu vernebeln. Indem das Urteil alle meint, trifft es am Ende niemanden.
Aber ist die „Reise ins Innere der Stadt“ überhaupt ein Kinder- oder Jugendbuch? Ja und nein. Die Texte sind weder heiter, noch ironisch, sie helfen uns nicht aus unserer Angst, im Gegenteil. Doch sie sind klug. Und diese Klugheit kann auch von Kindern verstanden werden, mal abgesehen davon, dass die Bilder - so schön und rätselhaft, so traumverloren und absurd - geeignet sind, die Fantasie von Kindern und Jugendlichen zu fesseln und zu beflügeln. „Die Regeln des Sommers“ waren gewidmet „Für Klein und Groß“, eine Widmung für die „Reise ins Innere der Stadt“ könnte lauten: „Für Groß und Klein.“

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von bf; Landesstelle: Bremen.
Veröffentlicht am 02.01.2019

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