Ravna, Tod in der Arktis

Autor*in
Herrmann, Elisabeth
ISBN
978-3-570-17608-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
462
Verlag
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
22,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Die Samin Ravna beginnt im norwegischen Winter ihr Praktikum bei der Polizei. Als Außenseiterin, hat allein sie Zugang zu den Traditionen der Rentierzüchter und ihrer versteckten Bezüge zum schamanischen Wissen. Zur Aufklärung der Tötung eines reichen Grundbesitzers ist dieses Wissen bedeutsam. Bei zwei weiteren Morden führen den Ermittler Thor nur seine eigenen und Ravnas Erfahrungen zur Lösung. Sie decken vielschichtige verborgene Strukturen auf, in der auch die Urgroßmutter eine Rolle spielt.

Beurteilungstext

Die Geschichte fesselt unmittelbar. Schon mit der ersten Einstimmung befinden sich die Leser in dem kleinen Ort Mortensnes am Varangerfjord, nah der Grenze zwischen Norwegen und Finnland. „Die Kälte drang bis auf die Knochen. Die Dunkelheit war gekommen“. Innerhalb zweier Tage verkürzt sich die Tageslänge um 30 Minuten und in den nächsten Tagen weiter. Diese Angaben sind den ersten Kapiteln vorangestellt, bis kein Licht mehr die dauerhafte Dunkelheit für lange Zeit erreichen wird. Hier erzählt, wer diese extremen Wechsel der Jahreszeiten und die Abnahme des Lichts sehr genau kennt und schon immer erlebt hat. (Die Autorin hat für ihre Recherchen längere Zeit an den beschriebenen Orten gelebt. Es ist ihr offenbar gelungen, tief in die Geschichten und Erzählungen der Menschen einzudringen.)
Ravna, die Samin, gerade 18 Jahre alt, arbeitet im November 2019 als Praktikant (unproblematische übliche Sprechweise der Norweger) bei der Polizei und hat gleich mit einem Toten zu tun. Noch kennt sie keiner ihrer Kollegen näher. Sie gehört einer Minderheit an und will es, als erste ihrer Familie, zu einer späteren Anstellung schaffen.
Ihre Mutter muss daher allein der Tradition folgen, die Rentiere auf die Winterweiden zu führen. Wie für alle Familien dieser Volksgruppe die einzige Möglichkeit, ein sehr bescheidenes Überleben zu sichern. Sie ist mit ihren Rentieren unterwegs im Grenzland.
Von Ravnas Schwester Inga, die nach Oslo floh, um der Enge zu entkommen, wird viel später zu lesen sein, dass sie starb und dass dieser Tod keine reine Selbsttötung gewesen ist. Leben und Tod der Schwester sind eine bleibende Wunde für die Frauen aus vier Generationen, zu der auch die Urgroßmutter Lena zählt. Ravnas Bruch mit der Tradition wird von Lena nicht akzeptiert. Beide haben kleine Wohnungen im Ort. Ravna kümmert sich um die Versorgung der alten Frau, die sie in Gesprächen auf familiäre Verpflichtungen verweist.
Der Zufall, dass Ravna gerade an diesem Tag ihren Dienst beginnt, hat Folgen für alle weiteren Ermittlungen. Ohne sie wäre die wichtigste Spur vermutlich unentdeckt geblieben. Sie liest die ersten Zeichen des Fundortes, u.a. ein auf dem Boden gezogener Strich vor dem Toten. Am nächsten Tag wäre der zudem unter dem Neuschnee verschwunden.
„Hier ist ein Strich…“. „In Mortensnes hat alles eine Bedeutung.“, erklärt sie dem jungen Kollegen Mikkel. Der lacht sie aus. „Das hier ist eine klassische Ermittlung. Ohne Striche. Ich lach mich tot.“
Das in ihr steckende Gespür und Wissen über die bis in vorchristliche Zeiten zurückreichenden alten Lebensformen und Mythologien strukturiert die Ermittlungen bis zum tatsächlichen Ende des Buches. Dabei haben gar nicht alle Geschehnisse direkt mit diesem und weiteren Verbrechen zu tun. Es geht auch um Landnahme, Naturschutz, Spekulanten von Großfirmen, Bestechung, Ausbeutung, Pubertät. Tätliche Übergriffe auf Abhängige werden aus großer Scham vertuscht.
Der Tote gehörte zu „ihrem“ Volk. Ihm gehören die meisten Weiden. Andere Familien sind seit langer Zeit nur noch Pächter und können kaum ihre Familien ernähren. Bis der unnahbare „Gant“ (sie benennt ihn für sich nach einer Figur der alten Mythen) Thor aus Kirkenes auftaucht, werden ihre Beobachtungen nicht wirklich ernst genommen. Thor bringt schnell geordnete Untersuchungen voran. Die eher lässigen Ermittlungen der unerfahrenen Polizisten unterbindet er allein durch seine Haltung und große Erfahrung. Er findet schnell heraus, dass nur eine gewissenhafte Ärztin und Ravna ihn werden unterstützen können.
Ravna kennt die Vorurteile sowohl gegenüber den Samen als auch dem noch immer versteckt ausgeübten Schamanismus. Thor spürt dies irgendwie. Mit ihm muss sie reden, muss ihn zu ihrer Urgroßmutter führen, die eine der Letzten überhaupt ist, die, von Wanderselen weiß und mit der Trommel „goavddies“ umgehen kann.
Heimlich wird sie offenbar noch immer zu Geistern befragt und um Rat gebeten. In ihrem Besitz befindet sich eine der letzten Trommeln außerhalb von historischen Sammlungen.
Auch der Kommissar sucht außerhalb der Absprachen immer wieder Kontakt zu ihr.

Während der Ermittlungen steigen Leser tiefer in einzelne Bereiche der samischen Geschichte und Mythologie ein. Fehden, Abhängigkeiten, wichtige Werkzeuge der Rentierhaltung, Zeichen der jeweiligen Herdentiere, an denen Besitzer erkannt werden. Die Unterscheidung ihrer drei besonderen Messer spielt eine besondere Rolle. Würde eines fehlen, wäre es ein starkes Indiz auf den möglichen Täter.
All dieses Wissen hat hier nur Ravna. Sie gibt die entscheidenden Hinweise. Thor erkennt ihre Ernsthaftigkeit und Beobachtungsgabe und nutzt ihre Kontakte zu den Pächtern und deren Kindern. Die junge Generation, etwa in ihrem Alter, ist sowohl den alten Strukturen verwoben, als auch dem technischen Fortschritt ausgesetzt. Auf der Suche nach eigenen Freiheiten haben sie nur sehr enge Spielräume. Das verbindet die Leser mit eigenen Erfahrungen. Abhängigkeiten spielen auch in anderen Gesellschaften eine Rolle, der Wille, auszubrechen und Zugeständnisse zu machen, die irgendwann nicht mehr kontrollierbar sind. Jede nächste Generation muss die Konflikte austragen oder Wege suchen, alte Geflechte zu durchbrechen.

Thor hat seine eigene Geschichte. Ravna erfährt sie durch eine unbedachte Äußerung eines jungen Kollegen aus Kirkenes. Thors Frau und Tochter wurden mit über 60 anderen Menschen durch Breivik auf der norwegischen Insel Utøya ermordet (ohne, dass dieses Geschehen im Weiteren thematisiert wird). Daher war er lange nicht dienstfähig und ist immer wieder stark dem Alkohol zugeneigt. Seine Abordnung hierher ist ein erster Versuch, ihn wieder einzugliedern. Sein Misstrauen ist immer wach aber auch seine Fähigkeit von früher, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Ravnas und Thors Zusammenarbeit schließt auch größere Konflikte miteinander nicht aus. Manchmal scheinen sie gegeneinander zu arbeiten, manchmal muss Ravna die Verantwortung für den Menschen Thor und die Entwicklung übernehmen. Dennoch scheint er mehr zu wissen und ist ihr oft voraus. Ihr Vorgehen als Praktikant wird zunehmend selbstbewusster. Sie gewinnt zunehmend an Autorität.
Vor allem die beiden Charaktere treiben die Erzählung voran. Sie müssen in Grenzbereichen überleben. Beiden Figuren liegt Ernsthaftigkeit zugrunde. Daher müssen sie gehört werden und hören und agieren in ihrer Gegensätzlichkeit miteinander.
Die Polizei im Mortensnes hatte bisher nie solch komplexe Fälle zu bearbeiten. Familien trugen ihre Konflikte untereinander aus oder zogen weg. Norweger und Samen lebten in verschiedenen Welten. Der reichste Landbesitzer begründete seine Macht über alle Rentierzüchter u.a. durch uralte Verträge.
Elisabeth Herrmann überzeugt durch ihre Figurenführung. Die Dialoge sind stimmig. Die Überlegungen und das Verhalten der anderen Akteure lassen sich nachvollziehen und steigern die Spannung immer wieder. Schilderungen der Atmosphäre im einzigen Hotel der Stadt, des Museums und Ausflugortes, nahe des Fundorts der Leiche sind oft beklemmend für Leser.
Mit Naturbeschreibungen, Fahrten im zunehmend verschneiten und zufrierenden Norden, dem bald völlig für die Außenwelt unzugänglichen Wasserfall, erzeugt sie starke Bilder und Eindrücke.
Sie ist tief in die Geschichte der Volksgruppen eingestiegen. Erzählt nicht doch Ravna, die Samin, selbst? Nur jemand von dort kann die unterschiedlichen Qualitäten von Schnee und Eis, Dunkelheit und die wenigen möglichen Ablenkungen mit Namen benennen so eindrücklich umschreiben kann.
Herrmann kann die Spannung aller Erzählstränge halten, auch wenn sich neue Aspekte ergeben. Leser werden zum Mitdenken und Einfühlen mitgenommen. Sie schreibt mit großer Empathie für jede ihrer Personen.
Die Geschichte bleibt keine Fiktion, sie ist denkbar. Es ist keine Heldengeschichte, die Herrmann erzählt und dennoch endet sie so. Ravnas Entwicklung als wenig angepasster Praktikant ist glaubhaft dargestellt. Die Figur besitzt eine Kraft, die in jungen Menschen stecken kann, die einen eigene Wege finden wollen und zu eigenen Brüchen stehen können, ohne ihre Biografie zu verleugnen. Die Anerkennung hierfür durch die Figur des Thor ist nachvollziehbar. Er bleibt angenehm bescheiden im Hintergrund. Seine Hilfe für ihren weiteren Weg wäre fast nicht nötig gewesen.
Der Einband ist schön gestaltet mit haptischen Ausprägungen. Die Innendeckel zeigen blaugrau variierend die Karte um den Fjord in der Barentssee und die Grenzregionen und geben grobe Vorstellungen von den Entfernungen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 15.06.2021

Weitere Rezensionen zu Büchern von Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Ravna. Die Tote in den Nachtbergen

Weiterlesen
Herrmann, Elisabeth

RAVNA – Die Tote in den Nachtbergen

Weiterlesen
Herrmann, Elisabeth

Ravna - Die Tote in den Nachtbergen

Weiterlesen
Herrmann, Elisabeth

Ravna. Die Tote in den Nachtbergen

Weiterlesen
Herrmann, Elisabeth

Ravna. Tod in der Arktis

Weiterlesen
Herrmann, Elisabeth

Zartbittertod

Weiterlesen