RAVNA. Die Tote in den Nachtbergen
- Autor*in
- Herrmann, Elisabeth
- ISBN
- 978-3-570-17609-2
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- –
- Seitenanzahl
- 460
- Verlag
- cbj/cbt
- Gattung
- Erzählung/Roman
- Ort
- München
- Jahr
- 2022
- Lesealter
- 14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- Bücherei
- Preis
- 20,00 €
- Bewertung
Schlagwörter
Teaser
Niemand schien zu wissen, wohin das Mädchen Linnéa verschwunden war. Zehn Jahre später findet Ravna, Samin und Studentin der Polizeischule in Oslo, zufällig ein Skelett. Schnell ist klar, dass es sich um die Vermisste handelt und dass sie Opfer eines Verbrechens wurde. Stammt der Mörder aus der Gemeinschaft der Rentierzüchter? Elisabeth Herrmann führt die Leserinnen und Leser zum letzten indigenen Volk Europas – in einem fesselnden Krimi.
Beurteilungstext
Ravna – bald zwanzig Jahre alt - hat sich von der Polizeischule beurlauben lassen, um ihrer Mutter Hedda beim jährlichen Markieren der Rentierkälber im Falkfjellet, dem rauen Hochland an der Nordspitze Europas, zu helfen. Schnell wird ihr klar, dass sie „zwischen allen Stühlen sitzt“. Für ihre Siida, die samische Sippengemeinschaft, ist sie zur Norwegerin, zu einer fast Fremden geworden, als sie beschlossen hat, in den staatlichen Polizeidienst zu gehen. Die nicht-samischen Norweger akzeptieren sie zwar alles in allem – dennoch bekommt sie es mit Rassismus zu tun und bleibt für viele eine Hinterwäldlerin. Dass auch das Verhältnis zu ihrer Mutter zunehmend komplizierter wird, macht der jungen Frau besonders zu schaffen. Hedda hält unbeirrbar an der Lebensweise ihrer Vorfahren fest – sie hat keinen zweiten Job neben der traditionellen Rentierzucht, lebt durchgehend im Hochland, wehrt sich gegen eine Vereinnahmung der samischen Tradition und den Ausverkauf der Siedlungsgebiete.
Als Ravna sich nach einem Unfall mit Mühe aus einer Schlucht befreit, stößt sie auf ein Skelett. Sie erkennt die Überreste der Kleidung augenblicklich: Sie hat die Leiche Linnéas gefunden. Ravna erinnert sich an den Mittsommertag vor zehn Jahren, als das strahlend schöne und lebenslustige Mädchen ihren Vater, einen Tierarzt, aufs Hochland begleitete und nach einer Spontanparty verschwand. Die Suche der Rentierzüchter, ihres Freundes aus der Stadt, der Eltern, der Polizei erbrachte fast keine Ergebnisse. Schnell ist klar, dass Linnéa ermordet wurde. Die Ermittlungen übernimmt Rune Thor, ein Kriminalist aus der Provinzhauptstadt Kirkenes, mit dem Ravna bereits in einem anderen Fall zu tun hatte – ein genialer Ermittler, aber auch ein düsterer, unnahbarer, sprunghafter Charakter. Die Ermittlungen im Sommerlager der Samen fokussieren sich schnell auf die Jugendlichen, die an der Party vor einem Jahrzehnt teilgenommen hatten und ihr unmittelbares Umfeld. Nach wenigen Tagen ereignet sich ein weiterer Mord – Maja, eine ältere Samin, die die Aura einer Schamanin umgibt, die bei allen geachtet und beliebt zu sein schien, wird tot aufgefunden. Welche Verbindung gibt es zwischen den beiden toten Frauen? Kann es tatsächlich sein, dass unter den „Rendriftern“, den Menschen, die der rauen Natur trotzen und versuchen, möglichst viel von ihrer Tradition zu bewahren, ein Mörder ist? Die Autorin führt ihren Kriminalroman einem rasanten, wenn auch nicht wirklich überraschenden, Ende zu.
Elisabeth Herrmann hat sich seit annähernd zwanzig Jahren einen Namen als Verfasserin von Thrillern und Krimis für Jugendliche gemacht. Sie beschreibt im Nachwort, dass sie sich der Kultur der Samen und dem Zauber der Landschaft am Nordkap seit Jahrzehnten verbunden fühlt. „Die Tote in den Nachtbergen“ ist bereits der zweite Ravna-Roman. Es gelingt der Autorin, eine fesselnde Handlung aufzubauen – auch wenn es gewisse Längen gibt. Die eigentliche Kriminalgeschichte ist nicht besonders originell, aber solide ausgearbeitet. Leider ist die Auflösung zu vorhersehbar. Faszinierend an dem Buch ist die sensible, sachkundige Darstellung der Lebenswirklichkeit in Sápmi, dem Lebensraum der über die modernen Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und Russland verteilten Samen, des letzten Volkes in Europa, welches noch – wenigstens teilweise – indigen lebt. Herrmann gelingt es, die Realität des Lebens zwischen Tradition und Moderne überzeugend darzustellen und dabei jeglichen „Folklore-Kitsch“ zu vermeiden. Besonders die Bruchstellen im Leben der Samen werden schonungslos und drastisch beschrieben – der Wunsch, die ursprüngliche Lebensweise zu bewahren und auf der anderen Seite das Bedürfnis, am Leben der westlichen Welt teilzuhaben. Armut, Verwahrlosung, Benachteiligung durch Behörden und der schleichende Verlust von Sprache, Kultur und Identität finden sich nüchtern und realistisch geschildert. Ravna, die Protagonistin, ist eine starke Heldin, eine Sympathieträgerin, die durch die Konflikte, die sie austragen und aushalten muss, überzeugend wirkt. Der Roman wird in der dritten Person erzählt; die Dialoge sind lebendig, vor allem aber ist die Sprache sehr genau und vielfältig bei der Beschreibung der Lebensweise der Samen und bei der Schilderung der Natur. Das Buch ist in drei große Teile gegliedert – jeder Teil beginnt mit einer kurzen Rückblende auf den Tag vor zehn Jahren, an dem Linnéa ermordet wurde, um dann die Ereignisse des Jahres 2021 chronologisch zu erzählen.
Das Buch ist in erster Linie für Menschen lesenswert, die sich auf für uns fremde Lebensweisen einlassen möchten.