Pullerpause in der Zukunft
- Autor*in
- Gehm, Franziska
- ISBN
- 978-3-95470-209-1
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- Klein, Horst
- Seitenanzahl
- 226
- Verlag
- –
- Gattung
- Buch (gebunden)Erzählung/Roman
- Ort
- Leipzig
- Jahr
- 2019
- Lesealter
- 8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- –
- Preis
- 14,00 €
- Bewertung
Teaser
Was würden Kinder aus der DDR über unsere heutige Lebenswelt denken? Auf dieses Gedankenexperiment lässt sich "Pullerpause in der Zukunft" ein. Die zweite Mission der Letschobande bietet interessante und nachdenkliche Perspektiven auf die Gegenwart im wiedervereinigten Deutschland. Ein fetziges Abenteuer im "Wilden Westen" inklusive spannender Entführung!
Beurteilungstext
Im Sommer saß Jobst mit seiner Mutter in der DDR im Jahr 1987 fest. Sie waren mit ihrem Zeitreisekoffer gerade - aus dem Mittelalter kommend - auf dem Heimweg ins 21. Jahrhundert, als seine Mutter für eine Pullerpause anhalten musste. Während dieser wurde der Zeitreisekoffer gestohlen. In dieser schwierigen Situation wurden sie von Frank Kühne, dessen Tochter Jule, und ihrem Freund Letscho unterstützt. Im Zuge des skurrilen Abenteuers lernte Jobst vieles über den Alltag in der DDR und gewann in Jule und Letscho zwei enge Freunde.
Nun - im Jahr 2019 - gilt es, sich revanchieren: Jobsts Mutter liest auf dem Tablet einen Artikel über das Theatersterben in Ostdeutschland und erkennt einen lieben Bekannten wieder: Frank Kühne.
Susanne und Jobst wollen helfen das Theater zu retten und Jobst ist froh, einen Grund zu haben, die fernen Freunde zu besuchen und sie mithilfe des Koffers in seine Welt zu holen.
Brisant an der bevorstehenden Theaterschließung ist, dass der Verantwortliche der nun ungefähr 40jährige "Letscho" bzw. Torsten Hille ist. Was ist seit der Wiedervereinigung in den Biographien von Jule und Letscho geschehen, dass er das Theater und Lebenswerk des Vaters seiner besten Freundin schließen lässt?
Doch erst einmal müssen sich Jule und Letscho in ihrer Heimatstadt, in der nun über 30 Jahre vergangen sind, zurecht finden. Die Schrebergartenanlage, wo die Datsche der Kühnes war, musste einem Einkaufszentrum mit großem Parkplatz weichen. Auf den Straßen fahren keine Trabis und Schlaglöcher gibt es auch nicht mehr. Der Busbahnhof wirkt fast verlassen verglichen mit der Betriebsamkeit wie sie Jule und Letscho aus den 1980er Jahren kennen und über den Häuserblock, in dem eine von Letschos "Kindergartentanten" gewohnt hat, sagt er: "Diese Häuser waren früher ganz braun mit schiefen Fensterläden und im Vorgarten wucherten Wildrosen. Jetzt sehen sie aus wie Traubenzuckerdropse in 'ner keimfreien Schachtel."
Die drei Freunde müssen nun versuchen, Letschos erwachsenes Ich, nun Immobilienmakler, zur Vernunft zu bringen und das Theater bestehen zu lassen. Dabei offenbaren sich Stück für Stück die unterschiedlichen Werdegänge der Figuren nach 1989/90.
Bereits in "Pullerpause im Tal der Ahnungslosen" war Letscho keine eindimensionale Figur: immer wieder gab es Momente, die offenbarten, dass Letschos Inneres nicht immer der äußerlichen Unerschütterlichkeit entspricht. Nun zeigen sich Enttäuschungen, die er im Zuge der Wende empfunden hat. Wohl die größte unter ihnen: seine beste Freundin Juliane verlässt die Stadt, um in Wien zu studieren. Doch auch viele andere sind gegangen. Letscho kümmerte sich stattdessen um seine Eltern, die als sog. Wendeverlierer beide arbeitslos wurden. Partizia, 1987 noch ausdrückliche Feindin von Jule und Letscho, wurde seine Frau.
Für Juliane hingegen öffneten sich alle Türen: nach einem Studium in Wien, reist sie als Wissenschaftlerin um die ganze Welt. Ihre Eltern gingen mit der Wende ganz unterschiedlich um: während das Theater Frank Kühne Stabilität und Kontinuität bot, verlor ihre Mutter jede Orientierung. Schließlich trennt sie sich von ihrem Mann, um "im Westen" nochmal von vorn zu beginnen.
Nicht viele Texte der zeitgeschichtlichen KJL zur DDR und Wende thematisieren die Zeit nach 1989/90. "Pullerpause in der Zukunft" spannt einen großen zeitlich Bogen von über 30 Jahren auf: historisch eine sehr kurze Zeitspanne, in der sich sehr viel verändert hat. Durch die Perspektive Jules und Letschos wird für Leser*innen unsere vertraute und selbstverständliche Lebenswelt verfremdet: warum gibt es im Supermarkt ein ganzes Regal voll unterschiedlicher Nudelsorten? Und wie mag ein WhatsApp-Klassenchat auf Kinder wirken, die nicht mal Handys kennen?
Franziska Gehm erzählt wieder eine Geschichte voller origineller und komischer Wendungen. So heißt der Sohn Torsten Hilles "Bud" nach seinem Idol Bud Spencer. Der muss einen Vortrag über die DDR halten ("So'n Scheißthema aber auch […]") und tauscht unbemerkt mit dem jungen Letscho: der Junge aus der DDR hält den Vortrag. Nur als er über das Ende der DDR erzählt, bringt Letscho einiges durcheinander, denn die Wende hat er ja noch gar nicht erlebt... Doch so gut wie sich die Kinder verstehen, funktioniert es mit den Erwachsenen nicht: "Immobilienhai" Torsten Hille erweist sich als sehr resistent gegenüber Jule, Jobst und Letscho, da muss wohl zu drastischeren Maßnahmen gegriffen werden: beide Kinder Torsten Hilles kooperieren und die fünf Kinder täuschen eine Entführung vor. In den Räumen des Theaters vermag dann doch die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit und Freundschaft Torsten Hille empfänglich für die Bitten der Kinder zu machen.
Wieder erweist sich das fantastische Motiv der Zeitreise als erfolgreiches Mittel, genauer hinzuschauen und einen neuen Blick auf selbstverständlich Gewordenes werfen zu können. Das Cover und die Vignetten stammen wieder von Horst Klein wie schon bei "Pullerpause im Tal der Ahnungslosen". Doch auch ohne Kenntnis des ersten Buches lässt sich die Fortsetzung verstehen, macht vielleicht sogar Lust, die Lektüre noch nachzuholen.
Ein gelungener Streich zum 30. Wende-Jubiläum, der viele thematische Anknüpfungspunkte bietet, in Familie und Unterricht über die Erfahrungen nach der Wende nachzudenken und zu sprechen.
[Susanne Drogi]