Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall - Life before the wall fell

Autor*in
ISBN
978-3-89773-522-4
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Hauswald, Harald
Seitenanzahl
128
Verlag
Jaron
Gattung
Taschenbuch
Ort
Berlin
Jahr
2008
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Da gingen (und gehen wohl auch noch) zwei mit offenem Auge (und Ohr) durch eine Stadt, die in der jüngsten Vergangenheit Viel und viel Unterschiedliches erlebt hat. So schreibt der eine und fotografiert der andere, und wir erleben mit den beiden, was wir bisher nicht sahen oder was uns ganz neu ist. Ost-Berlin ist dabei ein Begriff, den es in der DDR nicht gab, die beiden aber waren Bürger von eben dieser. Diesen Zwiespalt werden sie behalten.

Beurteilungstext

Ganz jenseits von "Ostalgie" halten hier zwei Männer die Zeit an. Wir befinden uns in den 1980er Jahren. Schulklassen können für 120 DM für 5 Tage Berlin besuchen, wenn sie u. a. für einen Tag den Ostteil der Stadt besuchen. Es gibt noch den Zwangsumtausch, das Geld ist kaum ausgebbar. Man nimmt, was angeboten wird. Man geht esse, wartet am Eingang, weil der Ober den Platz zuweisen will. Man bestellt ein Bier für 83 Pfennig und das Tagesgericht. Was sonst? Am Nachmittag trifft man in einem kleinen Café einige Frauen, die neben Kuchen und Kaffee selbstverständlich einen Cognac bestellt haben. Ob er sich so schrieb? Man muss einen der beiden, den Fotografen oder den Schreiber befragen, denn das sind Dinge, die sie festgehalten haben.
Wie ganz nebenbei schreibt Rathenow vom Kennenlernen, vom Aufmerken, wo es was gibt. Eine Westschallplatte soll irgendwo auf dem Prenzlauer Berg zu finden sein, der Postbote notiert auf dem zurückkommenden Brief, dass er den Adressaten auch sucht ("Hat er auch Schulden bei dir?"). Ein Kind will auch einen Einbrecher reinlassen, weil es so langweilig ist. "Aber keinen Mörder." Ohne Pathos berichtet er auf eine ausgesprochen angenehme Weise, fast nebenbei, vom prallen Leben. Wie man aus Sachsen über ein polnisches Grenzdorf nach Berlin fuhr, weil der Tarif erheblich günstiger war (zurück dann über Decin in der CSSR), wie der Vater seinem Sohn in der U-Bahn befiehlt, sich gerade hinzusetzen (was zwei Männer zum ruckartigen Aufrichten animiert, der Sohn lümmelt dagegen weiter), wie man sich die erste Wohnung in Berlin erkämpfte und von da an an Verbesserungen der Wohngegend arbeitete, wie er auf die Frage nach dem Ort des Führerbunkers mit einem Armausstrecken antwortet.
"Ich trage keine historischen Bilder im Kopf …" schreibt Rathenow, "Wer jahrelang hier lebt, wird aber an Verluste erinnert, die neue Gebäude nicht wettmachen." So bleiben Menschen und Gebäude festgehalten hier im Text - und auf den Fotos.
Entweder befinden wir uns auf einer Baustelle, oder aber die Bausubstanz ist erbärmlich. Das wissen zwar die Menschen auf den Fotos, aber es scheint ihnen nichts auszumachen. Walli Brux wird auf einem Schild in der Schönhauser Allee gelobt ("Stellvertretender Wirtschaftsleiter …") als eine von "unseren Besten", die Leuchtschrift "Wohnkultur" führt sich selbst ad absurdum durch den Hintergrund, ein verfallendes Haus mit schwarzen, leeren Fenstern und bröckelndem Putz. Der Brickett-Transport wird festgehalten, der Blick auf marschierende Soldaten, sich liebende Menschen, Punks, Touristen, Penner, Menschenschlange vor dem Fleischerladen, die herunter gekommene Gaststätte "Am Wasserturm", ein Jugendklub, der Alex, eine verregnete und verstürmte Maidemonstration, Menschen, Parolen. Frieden ist nicht Sein, sondern Tun.
Also doch "Ostalgie". Für Menschen aus der alten Bundesrepublik, die die Mauerzeit direkt erlebten und wenigstens Berührungspunkte hatten, liefern Text und Bild erstaunliche und nachvollziehbare Momente. Angehalten, notiert, fotografiert. Zeugnis geben, nicht beschönigen, nicht verteufeln.
Man denkt an den Mann, der jeden Tag die Kreuzung vor seinem Laden fotografiert (Paul Auster), festhält, was erst in der Vergangenheit sich als eventuell festhaltenswert erweist. Vielleicht. Man denkt an Fotografen, die unbekannte junge Musikgruppen begleiteten, und deren Fotos wir heute mit Erstaunen aufnehmen (Jim Rakete) oder an solche, die für ihre Stadt Kolumnist und Zeitzeuge wurden (Wilhelm Hausschild für Hannover).

Das Buch ist textlich zweispaltig gedruckt (deutsch - englisch), die Fotos sind je über dem Text, mehrmals doppelseitig und je betitelt. Der Text beruft, bezieht sich meist auf die Fotos (oder umgekehrt), ohne dass es eine Beschreibung ist. Beide aber treffen genau den Ton der Geschichte, die man selbst erlebt hat - und sie bewusst wahrgenommen hat als solche.
Das war dein Leben? Das ist dein Leben! Diese Botschaft nimmt jeder mit, auch wenn ihm diese Gegend der Welt und dieses Zeitgeschehen fremd war und vielleicht auch bleibt. Das Nachdenken über die eigene Situation jetzt und was später davon bleiben wird, könnte zu einem aufmerksameren Leben führen.

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Diese Rezension wurde verfasst von uhb.
Veröffentlicht am 01.01.2010