Opfer

Autor*in
Wung-Sung, Jesper
ISBN
978-3-446-25092-5
Übersetzer*in
Buchinger, Friederike
Ori. Sprache
Dänisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
142
Verlag
Hanser
Gattung
Dystopie
Ort
München
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
12,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Als ein Lehrer gerade seine Schüler zurechtweisen will, bricht er zusammen. Alle Schüler und Lehrer werden nach Schulschluss gebeten, in der Turnhalle zu bleiben, es kursiert das Gerücht, es handele sich um eine Sicherheitsmaßnahme wegen einer Grippeepidemie. Doch dann wird ein Zaun um die Schule errichtet und keiner kann das Gelände mehr verlassen. Nach einigen Tagen gibt es weitere Kranke und die ersten Toten...

Beurteilungstext

Erzählt wird die Geschichte aus der personalen Perspektive des Schülers Benjamin, dem Sohn des Schulleiters. In 54 überschaubaren Kapiteln, die alle mit römischen Zahlen betitelt sind, erfahren die Leser auf 142 Seiten, wie sich eine gesellschaftliche Gruppe in einer erzwungenen Quarantäne unter den Bedingungen einer nicht erklärbaren Krankheit entwickelt. Indirekt wird dabei immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung einem einzelnen Menschenleben in einem Ausnahmezustand überhaupt beigemessen werden kann.

Die Handlung entfaltet sich weniger actionreich, sondern eher unterschwellig und entwickelt sich mit einer beachtlichen Subtilität zu einem dramatischen Szenario: Zu Beginn experimentieren vier Jugendliche mit dem Ofen des Kunstraums, indem sie Kreuzspinnen verbrennen. Als der Naturwissenschaftslehrer sie zurechtweisen will, rinnt ihm nur Blut aus der Nase, er bricht zusammen und wird abtransportiert. Sowohl die Schüler- als auch die Lehrerschaft wird in die Sporthalle gebeten, weil der Schulleiter den vorzeitigen Schulschluss verkünden möchte. Doch dann erscheinen uniformierte Männer, die mitteilen, dass zur Aufklärung der Situation gewünscht wird, dass alle noch bleiben. In dieser Zeit rücken Lastwagen an und errichten einen Zaun um die Schule. Während einige Schüler noch unbeobachtet flüchten, bleiben die Protagonisten rund um Benjamin aus Pflichtgefühl in der Schule.

Wirkliche Informationen über diese angeblichen Vorsichtsmaßnahmen gibt es nicht. Das wirft Fragen auf: Warum müssen alle bleiben? Gibt es eine Epidemie? Warum gibt es keine Informationen? Warum kommt niemand von außen und klärt auf? Auch die Leser bleiben mit dieser Unsicherheit zurück und wissen kaum mehr, als die handelnden Figuren. Diese richten sich in der Situation ein, versuchen sich zu beschäftigen und abzulenken. Nach kurzer Zeit werden Lebensmittel, Medikamente und Leichensäcke mit einer Drohne über dem Schulgelände abgeworfen. Die Leichensäcke kommen alsbald zum Einsatz, denn immer mehr der anwesenden Schüler und Lehrer infizieren sich mit einer undefinierbaren Krankheit und sterben. Die Leichen werden auf dem Sportplatz begraben. Aus Frustration versuchen einige, über den Zaun zu klettern, doch auch dieser Versuch endet tödlich. Nachdem alle Lehrkräfte der Krankheit zum Opfer gefallen sind, bleibt nur noch eine kleine Schülergruppe aus Jahrgang 9 am Leben. Nun entwickelt sich ein eigenes Überlebenssystem. Die Jugendlichen teilen sich in zwei Gruppen: die Hedonisten und die Anarchisten. Letztendlich gewinnt keine Strategie. Am Ende überleben nur Benjamin und seine Mitschülerin Kate die Katastrophe.

Obwohl die Geschichte in der Gegenwart spielt, hat sie etwas Dystopisches. Unterstützt wird diese Atmosphäre nicht nur durch den sprachgewaltigen Schreibstil, sondern ebenso durch die außergewöhnliche typographische Gestaltung und die Reduzierung der Handlungsstränge. Dem Autor gelingt es, mit treffend klaren Beschreibungen aussagekräftige Bilder zu erzeugen. Ohne viele Ausschmückungen entsteht ein eindeutiges Setting, das komplett auf das Schulgelände begrenzt ist. Die Handlungsdarstellung erfolgt chronologisch, es gibt keine Rückblenden oder Vorausdeutungen. Alles spielt im Hier und Jetzt. Diese Begrenzung findet sich auch im Druckbild wieder. Der Text ist wie eine Art Quadrat auf der Mitte einer jeden Seite angeordnet. Oben und unten bleibt ein breiter Rand, der den Lesern inhaltliche Möglichkeiten zur Auffüllung von Leerstellen gibt. Denn dieser Roman wirft brisante Fragen über gesellschaftliche Systeme auf. Wie reagieren Menschen in Notsituationen? Welche Grenzüberschreitungen trauen sich die einzelnen Charaktere zu? Was ist gerecht und wozu lohnt es sich zu leben? Welche Grenzen gibt es und welche dürfen gebrochen werden?

Jesper Wung-Sung gelingt ein radikales Experiment. Mit wenigen Stilmitteln, dafür aber mit einer deutlich spürbaren Tiefe werden existentielle Themen angesprochen. Die Leser werden in eine irrationale Welt geführt und somit zum Nachdenken angeregt. Kritisch anzumerken könnte lediglich die Tatsache bleiben, dass die Charaktere nicht nachhaltig nach Gründen für die ausweglose Situation suchen. Hier hätten die Protagonisten noch etwas mehr Tiefenstruktur bekommen können und den Mut, das System aktiv zu hinterfragen. Grundsätzlich bieten sich aber vor diesem Hintergrund wertvolle intertextuelle Bezüge zu vergleichbaren Werken wie „Nichts“, „Herr der Fliegen“ oder „Stadt der Blinden“ an.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Veröffentlicht am 01.07.2016

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