Oma verbuddeln

Autor*in
Schössow, Birgit
ISBN
978-3-7795-0747-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Schössow, Birgit
Seitenanzahl
224
Verlag
Peter Hammer Verlag
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Wuppertal
Jahr
2024
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Freizeitlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Eltern dreier Kinder verunglücken tödlich. Die vertraute Familie wird es nie mehr geben. Ihre nette, ältere Nachbarin ist beim ersten Besuch der Dame vom Jugendamt bei ihren. Ihre Großmutter - Autorin von Kriminalromanen - kennen sie nicht. Sie lebt seit Kurzem mit Katze Lili im eigenen Haus an der Ostsee. Dort sollen sie hin. Der Kontakt zur Nachbarin bleibt, weil Oma sie auch mag. Schöne, weitere traurige und überraschende Ereignisse schweißen die Geschwister fest zusammen.

Beurteilungstext

Paul, der Erzähler, steht abwartend, fast ein wenig lächelnd, in Omas Garten. Den tollen Spaten aufstützend, könnte er auch nachdenken.
Anders, als es der unbekümmerte und freundlich gestaltete Einband suggeriert, geschehen in dieser Erzählung unvermittelt viele traurige Dinge. An ihnen hält sich die Autorin nicht lange fest, sondern kommt sehr schnell zu kuriosen, hin und wieder witzigen Ereignissen, die die trübe Stimmung überlagern. Es geht in diesem Buch eigentlich um sehr einschneidende Schicksalsschläge.
Die Geschwister Annie (12), Mina (6) und Paul (11) verlieren ihre Eltern bei einem Unfall. Die patente Nachbarin ist zu alt, um die Kinder adoptieren zu dürfen. Ein Großelternpaar lebt zwar noch, ist allerdings älter, bzw. dement. Die Familie besuchte sie bisher häufig im Heim. Von der anderen Seite lebt nur noch die Großmutter, die als Verfasserin von Kriminalromanen seit Jahren in der Welt unterwegs ist. Sie betreibt aufwändige Recherchen, um die Schauplätze ihrer Storys realitätsnah beschreiben zu können. Für die Familie interessiert sie sich offenbar nicht, weil es Konflikte mit dem früh verstorbenen Großvater gab. Nur Annie hat sie ein einziges Mal gesehen.
Die Nachbarin Mattuschke ist aber ein geliebter Ersatz für die fehlenden Großeltern. Sie hilft gern aus und daher kennen sie sich gut. Oft sehen sie gemeinsam fern (die sechsjährige Tochter offenbar auch …), wenn die Eltern Termine wahren müssen oder einmal freihaben wollen. Durch sie sind die Kinder an ‚Krimis‘ gewöhnt.
Nach einer fröhlichen Geburtstagsfeier im Schwimmbad, auf der wir die Protagonisten kennenlernen, wird nun die fiktionale Dramatik eines Krimis an der eigenen Tür wahr. Polizisten schellen und übermitteln die Todesnachricht. Die Eltern hatten einen Unfall.
Das erste Kinderbuch der Autorin ist wie ein Kriminalroman angelegt, zugegeben, wie ein sehr ungewöhnlicher.
Darin begründen sich u.a. auch die Kritikpunkte, der sich rasant und fantasievoll entwickelnden Geschichte:
Birgit Schössow überlässt die Entscheidungen für die Handlung eher der Struktur, als dem mitgedachten Empfinden kleinerer bzw. jüngerer LeserInnen. Man sollte sich diese wirklich im echten Leseprozess vorstellen und nicht vom Ende der Geschichte her gedacht.
Hätte die Autorin ihre Erzählung doch mit dem Text auf dem hinteren Einband (s. auch Website https://birgit-schoessow.de/aktuell) begonnen. Dann bliebe es für Kinder immer noch traurig, doch sie kämen nicht in die Situation, sich von einer Sekunde, auf die andere mit dem Tod auseinandersetzen zu müssen. Auch, wenn es sich ‚nur‘ um den Tod der Figuren handelt. Bereits beim ersten Lesen werden sie nämlich alle als sympathisch und liebenswert erlebt. Die lesende Unbekümmertheit ist schlagartig vorbei (sogar für erwachsene LeserInnen), die kuschelige Vorlese-Stimmung ebenso.
Solche Schicksale kann es ja tatsächlich geben. Der Tod ist heute allein durch die Nachrichten leider zu oft präsent.
Das Eingangskapitel „Alle glücklichen Familien gleichen einander“, denkt, „Jede Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich“, implizit mit. Der Fokus der Kinder wird sich unausweichlich sofort auf die eigene Situation richten. Vielleicht findet die Aufmerksamkeit dann wieder zurück zum Text. Oder auch nicht mehr. Der Thematik sollten sich Menschen aber unbedingt stellen, nicht nur in Büchern.

Birgit Schössow schreibt in einer anschaulichen Sprache. Auch wenn deutlich wird, dass Paul (als Kind) sich über alles, was er sieht und spürt, wirklich Gedanken macht, sind seine Reflexionen nicht immer nachvollziehbar:
Die kleine Schwester neigt dazu, das Gehörte zu verdrängen, er selbst neigt zur Sicht von außen auf die Veränderungen, die große Schwester neigt zur Totalablehnung aller notwendigen Vorschläge der Jugendamtsbeamtin.
Die zu vermutende Trauer findet nur wenig Raum bzw. sprachlichen Ausdruck. Wer kann sich wirklich hineindenken in einen solchen Einschnitt, der alle Lebensbereiche umfasst; auch die Schule und die Freundschaften? Es bleibt wenig Zeit, weil Vieles zuerst einmal geregelt werden muss.
Eines ist für alle drei Kinder aber ganz klar, sie wollen und müssen zusammenbleiben.
Gut, dass sich die unbekannte Großmutter, die inzwischen an der Ostsee lebt, als sympathisch herausstellt. Sie bewohnt mit Katze Lili ein kleines frei stehendes Haus in der Einöde.
Alle stimmen daher einem Probewohnen zu. Sogar Nachbarin Mattuschke darf mitkommen. Gemeinsam auch mit ihr zelebrieren sie die See-Bestattung der Eltern. Auch mit diesem Prozedere müssen sie fertig werden und sinnen den Blumenkränzen auf dem Wasser wie „zwei Blumenpizzas im Meer“ nach.
Die Kinder fügen sich bald in ihr neues Zuhause. Birgit Schössow beschreibt meist einfühlsam, auch witzig, die Begebenheiten in der Schule oder die Konflikte bzw. die neuen Freundschaften. Kinder und Erwachsene werden den Kindern zunehmend vertrauter. Sie lernen, auch andere Probleme besser zu verstehen.
Dabei sind Freunde im Umfeld, die Schule und Nachbarn nah genug erreichbar, aber gleichzeitig auch weit genug entfernt. Keiner stört wirklich die scheinbare Idylle mit Katze Lili. Mina tröstet sich gern mit ihr, denn sie soll vor der Einschulung noch ein wenig spielen und sich eingewöhnen dürfen.
Jedes der 28 Kapitel ist einführend betitelt und zeigt eine ganzseitige Illustration der Autorin. Die Umsetzung der folgenden Texte in Bildideen schafft einen weiteren Zugang zum Geschehen und zu den Figuren. Im Nachhinein aufgeblättert, fallen schöne Details auf. Die Farben der Aquarelle nehmen die Stimmungen auf, bzw. leiten sie empathisch ein. Nur das Titelbild weicht von diesem Konzept ab.
Die neue Oma hat großes Vertrauen zu den Kindern, überträgt ihnen bald die Einkäufe und die Scheckkarte und auch bereits fertiggestellte Bücher, die noch nicht veröffentlicht wurden. Sie stellen so etwas wie eine spätere Lebensversicherung für alle dar. Der Postbote überlässt ihnen gegen Unterschrift sogar schon wichtige Schreiben, ohne noch nach der Oma zu fragen.
Oma bezieht die Kinder sogar in die Gartengestaltung ein. Bald soll neu gepflanzt werden. Vorbereitungen hat sie bereits getroffen. Vorher müssen sie leider noch die geliebte Katze würdig beisetzen. In hohem Katzenalter ist auch sie gestorben: Das Kapitel „Lili fliegt davon“ zeigt eine friedlich anmutend schlafende Katze mit ihrem Lieblingsspielzeug, weich gebettet, in ihrem Pappkarton-Sarg.
Das „Gesterbe“ geht ohne Vorankündigung weiter. Paul findet die Oma tot im Gartenstuhl auf. Erneut wissen die Geschwister, dass sie zusammenbleiben wollen. Nach außen soll bzw. muss diese Oma weiterleben.
Hat sie das nicht eigentlich alles ganz genauso vorgeplant? Alle Indizien sprechen dafür, dass sie hier in ihrem Garten unter den neuen Pflanzen beerdigt werden wollte.
Das Jugendamt muss ‚außen vor‘ gehalten werden. Wenige neue Freunde und - notwendigerweise - auch Frau Mattuschke und Omas netter Verleger müssen eingeweiht werden. Für die gibt es sogar ein Happyend, wodurch eine Art ‚Omaaustausch' möglich wird.
Schössow zeigt beispielhaft die Konflikte auf, die sich ergeben, wenn über die Köpfe betroffener Kinder hinweg, gegen deren Interessen entschieden wird. Unter Umständen auch nur nach Aktenlage. (LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, sogar ÄrztInnen können über solche Entscheidungen berichten.)

Schössows Plot ist genial erdacht und ließe sich wunderbar in Szene setzen: Wie können wir uns wehren? Welche Möglichkeiten haben Kinder ab welchem Alter? Wer darf uns trennen? Kommen wir in ein Heim oder in getrennte Heime? Müssen wir zu (verschiedenen) Pflegeeltern? An wen dürfen/könnten wir uns wenden? Hilft Öffentlichkeit?
In aller Konsequenz löst sich aber die Hoffnung dieser Kinder – so man sie ernst nimmt – für LeserInnen sofort wieder auf. Alle Gesetze sind dagegen. Das einsame Haus am Meer ist leider ein nur sehr selten verfügbarer Ort. Auf Dauer ist das Getane nicht zu verheimlichen. Es gibt regelnde Behörden und aufmerksame Nachbarn.
Die angedachten Helfer allerdings sind notwendig, denkbar und gut geschildert. Ebenso die Überlegungen, die der Text in Gang setzt, sind wirksam und weiterführend. Hoffentlich.
Es ist nach Überzeugung der Rezensentin allerdings nicht ratsam, Kindern die lebendig geschriebene Erzählung ohne Vorinformationen allein lesen zu lassen. Sie werden sicher - etwas Lustiges vermutend - schnell nach dem Buch greifen und loslesen. Sie entscheiden oft nach Titel, vorderem und hinterem Einband. Deshalb sollte die Altersempfehlung unbedingt angehoben werden. Bei Jugendlichen mag es anders sein.

Anmerkung

(Anm.: Das hat nichts mit „Schnappatmung“ wegen des möglicherweise empörenden Inhalts oder einer 'political-correctness' zu tun, wovon u.a. in einer der vielen geradezu euphorischen Rezensionen zu lesen ist. Die Einschätzung beruht auf langer Menschenkinder-Kenntnis in Schule und eigener Familie. Die Stufe abstrakten Denkens sollte erreicht sein, sonst macht der Text mehr kaputt, als dass er helfen könnte. Das Ende könnte auch satirisch verstanden werden.
So wie nicht alle sechs-jährigen Kinder gern Krimis schauen (welche? Im Vorabendprogramm oder sogar noch später …?), mögen sie auch nicht gern überfallartig mit Schrecklichem konfrontiert werden. Wenn es gelesen ist, ist es ja schon im Kopf angekommen. Auch ohne Fernsehbild, etc.)
Es ist auch ein Buch für Erwachsene und Sozialarbeit. Die Altersfreigabe kann nur jede Familie für ihre Kinder selbst einschätzen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 20.12.2024