Ohne dich

Autor*in
Sassen, Erna
ISBN
978-3-7725-3113-2
Übersetzer*in
Erdorf, Rolf
Ori. Sprache
Niederländisch
Illustrator*in
van der Linden, Martijn
Seitenanzahl
264
Verlag
Freies Geistesleben
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Stuttgart
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
20,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Den fünfzehnjährigen Joshua, der sich von anderen Jugendlichen absondert, verbindet seit langem eine tiefe Freundschaft mit Zivan, die mit ihrer Familie aus dem Irak geflohen ist. Doch plötzlich soll Zivan zurück in den Irak, um mit ihrem Cousin verheiratet zu werden. Einfühlsam wird aus der Perspektive von Joshua erzählt, wie er mit dieser Situation umgeht.

Beurteilungstext

Der fünfzehnjährige Joshua ist in seiner Hauptschulklasse den verbalen und körperlichen Attacken dominierender Mitschüler ausgesetzt. Halt findet er in der Erinnerung an die tiefgehende Freundschaft, die er mit Zivan, einer ehemaligen Mitschülerin aus der Realschule, hatte. Doch Zivan ist auf einmal verschwunden und reagiert nicht mehr auf Joshuas Nachrichten. Der ist noch verzweifelter, als er erfährt, dass Zivan im Irak mit ihrem Cousin verheiratet werden soll. Joshua zieht sich zurück, sitzt stundenlang in seinem Zimmer und zeichnet. Meist sind es Skizzen von Zivan, aber auch Skizzen, die etwas über seinen Gemütszustand verraten, wie z.B. Zähne fletschende Wölfe. Deutlich wird, wie einsam sich jemand fühlen kann, der seine Freundin vermisst, in der Klasse drangsaliert wird, dessen eigene Familie auseinandergefallen ist und der jetzt mit seinem enttäuschten Vater zusammenlebt.

Häufige innere Monologe, Selbstreflexionen und Handynachrichten an Zivan gewähren Einblicke in Joshuas Gefühlsleben und Motive seines Handelns: „Wieso stelle ich mich eigentlich so an. Das kann man sich natürlich auch fragen. Warum gebe ich Sergio nicht einfach, was er will, dann bin ich ihn los. Seine Jünger, diese jämmerlichen Mitläufer, die ihn fortwährend wie einen Bienenschwarm umgeben, rennen mich so oft sie können beim Basketball über den Haufen. Als würden sie Rugby spielen. Und sobald sich die Möglichkeit ergibt, knallen sie mir diesen knallharten Scheißball an den Kopf, sogar die aus demselben Team wie ich.“

Hier prallen zwei komplett unterschiedliche Lebenswelten aufeinander: die bildungsbürgerliche Sozialisation von Joshua auf der einen Seite und auf der anderen die drastischen Kindheitserfahrungen von Sergio sowie dessen Freund Dylan. Beide kompensieren in der Schule ihre schwierige Lebenssituation durch respektloses, gewaltvolles Verhalten, mit dem sie sich behaupten und Beachtung verschaffen.

Einfühlsam und glaubwürdig wird nun von einem langsamen Prozess der Annäherung zwischen Joshua und diesen beiden Jungen erzählt. Es sind Joshuas Zeichnungen, die zu einer Brücke werden und nach und nach mehr gegenseitiges Verstehen anbahnen. Sergio und Dylan bewundern nämlich Joshuas Zeichenkunst und darüber kommen die drei stärker miteinander in Kontakt. Joshua entdeckt, dass er sich von seinen Mitschülern mit einer gewissen Überheblichkeit abgegrenzt hat; Sergio und Dylan beginnen, Empathie für Joshuas Trauer um Zivan zu entwickeln und finden mehr und mehr Interesse an Joshuas Zeichnungen.

In ihren Gesprächen stoßen gegensätzliche Sichtweisen wie z.B. über Homosexualität, Frauen, Gewalt, Fremdes aufeinander, die die Autorin in Richtung mehr Respekt entschärft. Dies alles geschieht auf humorvolle Weise, die die Schwierigkeiten gegenseitigen Verstehens nicht ausblendet. Deutlich wird das z.B. in spritzigen Szenen vom Besuch der Klasse im Rijksmuseum in Amsterdam, von dem hier nur ein winziger Ausschnitt skizziert werden kann. Für Joshua, dem Sergio und Dylan den Spitznamen „Rembrandt“ verliehen haben, ist dieser Besuch verständlicherweise ein Highlight: „‘Wir bleiben bei Rembrandt. Der weiß nämlich, was schön ist‘, hatte Sergio schon während der Aufteilung in Gruppen angekündigt, und das beabsichtigte er nicht mehr zu widerrufen. ‚Ich will das Schaf sehen‘, warnte ich ihn. ‚Falls du darauf keine Lust hast, dann folgst du besser deinen Freunden.' ‚Es ist dein Tag‘, sagte Sergio. ‚Wir tun, was du willst.‘ Na super. Fort war meine Chance auf ein paar Stunden Ruhe. (…). Ich schlug vor, noch kurz zur „Nachtwache“ zu sausen. ‚Wir sind ja eh schon da‘, meinte Dylan. Aber seinetwegen brauchten wir es nicht unbedingt. 'Die Nachtwache' hatte er schon einmal gesehen, sein Opa hat Socken mit dem Motiv.“

Viele Zeichnungen ergänzen die Handlung und vertiefen die Einblicke in Joshuas Gefühlsleben: Skizzen von Zivan in unterschiedlichen Posen und Stimmungen, Tiere, die mit ihren Körperhaltungen und ihrer Mimik eine ganze Palette vielfältiger Gefühle zum Ausdruck bringen. So ist dieses Buch auch in seiner liebevollen Aufmachung ein Eye-Catcher, der zum Lesen verführen kann. Zu hoffen ist, dass es auch Jungen anspricht, denn Joshuas Erzählperspektive bietet ihnen hinreichend Stoff, eigene Erfahrungen nicht cool zu überspielen, sich für andere Menschen zu öffnen und Neues, Unbekanntes, zu wagen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Christine Dr Lehmann; Landesstelle: Niedersachsen.
Veröffentlicht am 03.11.2022