Off The Record

Autor*in
Garrett, Camryn
ISBN
978-3-401-60645-3
Übersetzer*in
Abedi, Isabel
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
408
Verlag
Arena
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Würzburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
15,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Die 17-jährige Journalistin Josie ist geschockt, nachdem sie ein offenes Geheimnis über einen berühmten Regisseur erfährt. Sie schreibt den wichtigsten Artikel ihres bisherigen Lebens, nachdem ihr klar wird, dass sie nicht schweigen kann. Die Geschichte ist eine Charakterstudie der Figur Josies und zeigt einen intimen Einblick ins Innere der Afroamerikanerin, die an einer Angststörung leidet. Es ist eine Geschichte über sexuellen Missbrauch und den stillen Mut Überlebender.

Beurteilungstext

"Alice, was würdest du tun, wenn du über etwas Schlimmes Bescheid wüsstest und es niemandem verraten dürftest?" (157)
Diese Worte setzen eine Geschichte in Gang, die ein Eigenleben entwickelt und im weiteren Verlauf das Leben vieler Menschen verändert. Josie ist mit ihren 17 Jahren bereits eine erfolgreiche Journalistin und schreibt als Autorin nicht nur für die Schülerzeitung, sondern auch für eine bekanntere Zeitschrift. Ihr Leben verändert sich zunächst, als sie einen Schreibwettbewerb gewinnt. Als Preis darf sie die Filmcrew eines neuen Films während der Premiere und den anschließenden Presseterminen begleiten und ein Porträt über den neuen Jungschauspieler schreiben. Auf dieser Reise begleitet sie notgedrungen ihre ältere Schwester Alice. Alice kann nicht stillsitzen und freundet sich buchstäblich mit jedem an. Nur mit Josie scheint sie nichts anfangen zu können. Josie dagegen schreibt stundenlang an ihren Artikeln und fühlt sich im Umgang mit Fremden durch ihre Angststörung gehemmt.
Zusammen reisen die Schwestern der Filmcrew durch verschiedene Städte und Termine nach und schließen unterschiedliche Bekanntschaften. Unter anderem freundet sich Josie mit zwei der jüngeren Schauspielern des Films an. Doch eines Tages erfährt sie ein Geheimnis. Ein gefeierter Regisseur belästigt seit vielen Jahren unbehelligt Schauspieler und Mitarbeiter am Set. Ein offenes Geheimnis in den richtigen Kreisen, doch ist niemand bereit, etwas dagegen zu unternehmen. So fällt es Josie zu, all ihren Mut zusammenzunehmen und einen Artikel zu schreiben, der die Wahrheit ans Licht bringen soll.
Die sozial interessierte Josie stellt eine interessante Protagonistin dar. Als Ich-Erzählerin fokussiert sich die ganze Geschichte auf sie als Figur. Ihr soziales Engagement lebt sie in ihren Artikeln aus, in denen soziale und politische Probleme anspricht. Als Afroamerikanerin nimmt sie Mainstream-Medien aus einem anderen Blickwinkel unter die Lupe. LeserInnen verbringen den Großteil der Geschichte in Josies Gedanken. Dadurch liegt der Fokus klar auf ihr als Figur und auf ihrer Entwicklung. Verteilt über die mehr als 400 Seiten des Buches sind es weniger die tatsächlichen Geschehnisse, die erst zu Ende der Geschichte Spannung aufbauen, als vielmehr die Charaktere, allen voran natürlich die Protagonistin Josie, die das Interesse von LeserInnen aufrechterhalten. Wir verbringen diese Seiten im Kopf der Protagonistin, sodass wir sie gut kennenlernen und ihre Handlungen und Gedanken nachvollziehen können. Identifikation mit ihr fällt dadurch nicht schwer. Sie ist ein mehrdimensionaler Charakter und eindeutig die am besten entwickelte Figur des Buches. Keine andere Figur lernen wir so gut kennen und ist genauso vielschichtig gezeichnet. Die Nebenfiguren dienen eher der Entwicklung von Josies Charakter, sodass sie im Hintergrund verschwinden.
Persönliche Konfliktpunkte stellen für Josie ihre Angststörung und ihr Gewicht dar. Vor allem ihr Gewicht ist immer wieder Thema ihrer inneren Monologe, da sie von ihrer Umwelt allzu oft darauf aufmerksam gemacht wird: "Mir selbst zu versichern, dass es kein Fehler ist, fett zu sein, fällt mir leicht, wenn ich allein oder auf Twitter unterwegs bin. Fett zu sein in der wirklichen Welt, inmitten all der anderen Menschen, ja sogar inmitten meiner eigenen Familie, ist eine komplett andere Geschichte" (51). Sie bringt ihre Frustration darüber zum Ausdruck: "Ich will einfach nur da sein dürfen, ohne Aufsehen zu erregen" (47). Die Auseinandersetzung mit der Thematik ist eine gute Repräsentation für den Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen, die mehr wiegen als das aktuelle Schönheitsideal und wie dieser jeden Bereich des Lebens eines Menschen durchdringen und vergiften kann: "Vielleicht ist ihr einfach nicht bewusst, wie sehr ich mich ohnehin schon davor fürchte, fetter zu sein, als Wer-auch-immer sich auf mich einlässt; wie groß mein Horror davor ist, dass uns ständig Leute angaffen und sich fragen würden, was mein Mensch eigentlich an mir findet" (118f.). In Josies Gedanken wird deutlich, wie sehr sie dadurch um Selbstachtung und Selbstakzeptanz zu kämpfen hat:
"Fettsein ist manchmal echt hart, besonders während der Feiertage. Es war hart, als Mom mich während des Thanksgiving-Essens unentwegt anstarrte. Es war hart, als der November begann und alle möglichen Websites anfingen, Diät-Tipps und 'inspirierende Berichte' über Leute (überwiegend Frauen) zu posten, die tonnenweise abgenommen haben, indem sie hungerten oder irgendwelche krankmachenden Ernährungstechniken anwendeten, die ich zu verlernen versuche. Ich habe keine Lust, mir die Wunderdiäten oder Vorher-Nachher-Storys von irgendwelchen Leuten reinzuziehen. Die Leute sehen mich und gehen völlig selbstverständlich davon aus, dass ich darauf brenne zu erfahren, wie ihre Nichte zwanzig Kilo bei Weight Watchers oder der neuen Zitronendiät verloren hat. Die meiste Zeit hab ich mich im Griff. Manchmal rutsche ich ab. Es fühlt sich an, als würden alle versuchen, meine Selbstachtung einzureißen, und ich schaffe es kaum noch, sie aufrechtzuerhalten" (119).
Obwohl Josie sich in diesen Punkten häufig nicht von ihrer Familie verstanden fühlt, verschließt sie sich nicht vor ihnen. Die Beziehung zu ihrer Familie ist emotional durchwachsen, doch ist sie stets ein Rückhalt für Josie. Auch zu ihrem romantischen Partner unterhält sie eine gute Beziehung, die auf offener Kommunikation fußt. Die Romanze ist wundervoll klischeefrei und auch die Erkundung körperlicher Beziehungen ist sehr gut gelungen. Auch dies kann als Zeugnis des stillen Muts gesehen werden, über den Josie verfügt. Es braucht Mut, sich anderen gegenüber zu öffnen. Im gesamten Verlauf der Geschichte ist Josies enorme mentale Stärke zu spüren. Trotz echten und gefühlten Verletzungen bleibt sie offen für Beziehungen, auch wenn es ihr manchmal schwerfällt.
Ihre starke Empathie macht sie anfällig dafür, sich Dinge manchmal zu stark zu Herzen zu nehmen und sich sofort verantwortlich zu fühlen: „‚Ich bin immer mit dem Herzen bei der Sache‘, sage ich. ‚Aber manchmal glaube ich einfach, es ist zu viel und es hilft nichts. Ich nehme mir die Sachen zu Herzen, immer mehr und mehr, bis ich nicht mehr weiß, was ich damit tun soll‘“ (342). Gleichzeitig ist es aber auch ihre große Stärke, da sie sich dadurch ihre Freundlichkeit bewahrt und den Mut findet, für Dinge einzustehen, die ihr wichtig sind. Sie schlägt nicht um sich, sondern bewahrt sich ihre Freundlichkeit und ironischerweise eine positive Einstellung trotz ihrer Angststörung. Dadurch ist sie ein wunderbares Vorbild für einen stillen Mut, der die Welt verändern kann. Das macht sie zu einer Protagonistin, mit der sich LeserInnen identifizieren können, zu der sie aber auch aufblicken können.
Josies Figur ermöglicht auch LeserInnen, die sich an dieser Stelle nicht mit ihr identifizieren können, einen guten Einblick in die Welt einer fiktiven Person mit Angststörung und Body-Image-Schwierigkeiten. Das Buch bietet eine gute Art der Repräsentation, sodass deutlich wird, wie diese Dinge ihre Gedanken und ihr Leben beeinflussen, sie jedoch nicht ausmachen. Josie als Figur ist nicht perfekt, aber wunderbar menschlich und realistisch. Ein Zitat von Isabel Abedi, der Übersetzerin des Buches, auf der Rückseite des Buches fasst Josies Charakter passend zusammen: „Selten habe ich einen Menschen, der sich selbst als ängstlich bezeichnet, so für seinen Mut bewundert wie Josie Wright. Ihre Story macht Mut“. Im Grunde erzählt das Buch eine Geschichte über Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen, über stillen Mut und mentale Stärke. Josie lässt sich nicht unterkriegen, was auch immer ihr das Leben in den Weg legt. Dadurch ist es eine hoffnungsvolle Geschichte inmitten der Tragödien des Alltags. Trotz diverser Probleme und ihrer Angststörung bewahrt Josie sich einen positiven Ausblick aufs Leben, auch wenn sie sich in ihrem Leben und in ihrer Familie manchmal eingesperrt fühlt: "Es gibt so viel Welt da draußen, von der ich jetzt noch nichts weiß. Filme, die sehenswert sind, Ideen, die mich inspirieren oder weiterbringen werden, Länder, die ich bereisen, und Menschen, die ich kennenlernen kann. Die wahre Welt ist überhaupt nicht klein. Und an manchen Tage ist es diese Vorstellung, die mich antreibt" (27).
Beim Aufzählen der Themen, mit denen sich das Buch beschäftigt, scheint es leicht, als hätte sich die Autorin zu viel vorgenommen. Die großen Themen eines Coming-of-Age-Romans sind vertreten: Familie, Liebe, Sexualität. Doch auch Rassismus, mentale Gesundheit, sexuelle Belästigung und die Gesellschaft werden thematisiert. Dies spiegelt jedoch die Lebensrealität vieler Teenager und jungen Erwachsenen wider. Die Autorin integriert diese Themen als Teil des Alltags in die Geschichte, sodass nicht unbedingt alle ausführlich diskutiert werden, doch erkennt sie damit die Vielfalt an, mit der sich junge Erwachsene auseinandersetzen müssen.
Das gut recherchierte Buch zeigt eindrucksvoll, womit Opfer mächtiger Menschen zu kämpfen haben und dass jeder zum Opfer werden kann. Niemand ist davor gefeit, auch im ‚normalen‘ Alltag nicht. Es gibt keine Schablonen, weder für Opfer noch für Täter. Auch die Übergriffe selbst können unterschiedlich aussehen, ohne hierarchisch gegeneinander aufgewogen zu werden. Die Autorin Camryn Garrett zeigt jedoch eindrücklich das gemeinsame Merkmal der Opfer: Die Scham, die so oft mit dem Missbrauch einhergeht. Doch gerade dadurch wird der gewaltige Mut der Frauen (und Männer) umso deutlicher, die sich gegen den Missbrauch wehren und über ihre Erfahrungen sprechen.
Das Buch beruht auf einigen realen Ereignissen. Davon profitiert die Handlung, da die Autorin ihr Wissen in Details und Beschreibungen einzubringen und zu nutzen weiß. Die Journalismus-Erfahrungen beruhen auf den eigenen Erfahrungen der Autorin, die selbst bereits mit 13 Jahren als TIME for Kids Reporterin tätig war. Die generelle Handlung beruht, wie im Nachwort erklärt, auf dem Harvey-Weinstein-Skandal. Auch hier waren es Artikel, geschrieben von mutigen AutorInnen, die als Erste den Skandal ans Licht brachten. Dadurch bietet das Buch Anlass, sich mit der Geschichte und der Gesellschaft auseinanderzusetzen, sei es in Eigenarbeit oder auch als Thema für eine Schulklasse. Die Geschichte und der Schreibstil kommen auf Englisch sicher noch besser zur Geltung, da viele Begriffe keinen eindeutigen deutschen Gegenpart haben, doch behindert dies keineswegs den Lesegenuss. Die Autorin geht respektvoll mit den sensiblen Themen um und bietet eine vielschichtige Diskussion um reale Ereignisse.

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Diese Rezension wurde verfasst von 167; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 03.01.2022