Mein Vater der Pirat

Autor*in
Calí, Davide
ISBN
978-3-942787-39-0
Übersetzer*in
Jacoby, Edmund
Ori. Sprache
Italienisch
Illustrator*in
Quarello, Maurizio A.
Seitenanzahl
23
Verlag
Jacoby & Stuart
Gattung
BilderbuchSachliteratur
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
8-9 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
14,95 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Ich-Erzähler erinnert sich, wie sein Vater, der nur einmal im Jahr für zwei Wochen nach Haus kam, ihm von seinen Abenteuern als Pirat erzählte. Als der Erzähler 9 Jahre alt war, erfuhr er erst, dass sein Vater in Wirklichkeit als Bergarbeiter unter Tage arbeitete und bei einem Grubenunglück knapp dem Tode entronnen war. Nach Jahren wurde die Zeche geschlossen und die Familie reiste noch einmal nach Belgien, um die früheren Arbeitskollegen wiederzusehen und von der Zeche Abschied zu nehmen.

Beurteilungstext

Die ersten 14 Seiten mit den Erzählungen des Vaters sind in freundlichen Gelb-Orange-Tönen gehalten und geben die Sicht eines Kindes wieder, das sich in der Liebe seines Vaters geborgen weiß, und ihn als den starken Helden verehrt. Wir sehen den Jungen auf dem Schoß des Vaters sitzen und seinen Erzählungen lauschen und auf seinen Schultern reiten, eine Piratenfahne schwingend. Die Heroisierung des Vaters durch das Kind wird im Bild verdeutlicht, das ihn in Untersicht am Strand einer felsigen Meeresküste stehend zeigt, während die Strahlen der untergehen Sonne ihn wie eine Aureole umfangen.
Er und die Männer seiner Besatzung sind in Gesichtern und Gestalt kantig modelliert und zeigen meist einen ernsten bis grämlichen Ausdruck. Der Brief, der Mutter und Sohn unerwartet nach Belgien ruft, erzeugt in dem Jungen die erste Verunsicherung. Der Ortswechsel von zu Haus an einen fremden Ort vollzieht sich durch einen langen grauen Eisenbahnzug mit einer mächtigen Dampflokomotive im Vordergrund, die sich dynamisch zur nächsten Doppelseite hin bewegt. Auf dieser nächsten Doppelseite erscheinen die Angstträume des Jungen von einem dramatischen Schiffbruch seines Vaters in dunklen blaugrauen Tönen. Seine erste Enttäuschung wird mitfühlbar, als bei der Ankunft kein Meer zu sehen ist, sondern er sich mit seiner Mutter als zwei vereinzelte Figuren aus einer riesigen Bahnhofshalle entfernt. Er findet sich dann am Krankenbett des Vaters wieder, der so fremd aussieht in seinen Bandagen und nicht auf die Anrede seines Kindes reagiert. Der Junge begreift zuerst einmal gar nichts. Er steht unter Schock: Sein Heldenbild von einem starken Vater ist zerbrochen. Überdies fühlt er sich getäuscht und belogen. In diesem Augenblick bleibt das Reich der Kindheit mit seinen glücklichen Phantasien hinter dem Jungen zurück. Sein Piratenvater ist gestorben. Jetzt sieht er sich konfrontiert mit einem Mann, der ihm zuerst wie ein unbekannter Fremder erscheint, der aber doch Mut gezeigt hat, weil er tief unten in der dunklen Erde gearbeitet hat. Das Verhältnis zu ihm ist ambivalent; denn Tatsache bleibt, dass er Lügen erzählt hat. Dieser Moment der Veränderung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn wird visualisiert in zwei Querpanels, die nur jeweils beider Augen zeigen, die verunsichert schauen, aber beide sehen aneinander vorbei.
Erst jetzt beginnt die Mutter zu reden und dem Jungen zu erklären, dass sein Vater all die Jahre im Bergwerk gearbeitet hat. Hier wurde der Text in hellgrauer Farbe auf eine dunkelgraue Fläche gesetzt. Am Kopf der Seite steht die Silhouette der Werksanlagen vor dem Tageslichthimmel. Die Textzeilen erscheinen so wie die einzelnen Querstollen in der Tiefe unter den Werksanlagen.
Als der Vater heim kommt und auf Dauer bei seiner Familie bleibt, verändert sich der düstere Blauton der Bilder wieder zu einem freundlichen Gelb und Braun. Viele Jahre vergehen, in denen der Junge seinen Vater gern hat, aber immer noch nicht verstehen kann, weshalb der ihm so viel vorgelogen hat.
Erst als die Nachricht von der Schließung der Zeche kommt, kramt der Vater in seinen alten Bergmannssachen. Der Junge sieht, dass darunter auch ein Sextant ist, und fragt. Und nun erzählt der Vater, dass er als junger Mann zur See hatte fahren wollen, aber nur die Arbeit als Bergmann bekommen hatte.
In diesem Augenblick - der Junge muss schon ein Jugendlicher geworden sein - beginnt er seinen Vater zu verstehen. Der Sextant und das Bild von dem Segelschiff ""Hoffnung"" über seinem Bett in der Arbeiterbaracke waren ebenso wie seine Piratenerzählungen Symbole und Ausdruck seiner Sehnsüchte und nie verwirklichten Träume gewesen. In dem Augenblick hat der Sohn seinen Vater wiedergefunden.

Bei der Wiederbegegnung mit den früheren Arbeitskollegen erkennt der Junge nun auch in ihnen die einzelnen Besatzungsmitglieder aus den Piratenerzählungen seines Vaters wieder.
Das nächste düstere Bild zeigt alle als Silhouetten vor dem Gitter des verschlossenen Zechentores. Die Männer stehen bedrückt beieinander, umarmen sich und weinen.
Und nun setzt der letzte Erkenntnisprozess des Jungen ein, bei dem sich für ihn die Tür zum Verstehen der Erwachsenenwelt öffnet: der Schiffsname ""Hoffnung"" zeigte die Ängste des Vaters bei der gefährlichen Arbeit unter Tage, die er mit der Hoffnung zu beschwören suchte, es möge immer wieder gut gehen und er heil wieder herauskommen.
Diese Ängste mussten die Arbeitskollegen genauso gehabt haben. Das Monster, das sie viele Jahre lang verschlungen und ausgespien hatte, war endlich tot, und trotzdem weinten sie, weil mit ihm auch die Jahre ihrer Jugend und Manneskraft verschwanden, in denen sie so viele Widrigkeiten des Lebens gemeinsam bestanden hatten.
Bis hierher haben sich Text-Autor und Illustrator mit großer Sicherheit in der Entwicklung der Gefühle und ihrer Symbolik bewegt, doch nun kommt ein Schluss, der aus der Logik herausfällt: Der Junge klettert auf einen Strommast und hisst die Piratenfahne, die sein Vater ihm einst geschenkt hatte. Der Strommast hat erstens nichts mit dem Werksgelände zu tun, zweitens ist sein Besteigen lebensgefährlich. Es hätte genügt, wenn der Junge seinem Vater die Fahne überreicht hätte. Überdies sieht er auf der Zeichnung immer noch aus wie ein Siebenjähriger; der Illustrator hätte ihn als Jugendlichen darstellen müssen. Damit hätte er gleichzeitig auch seine seelische Reifung verdeutlicht.

Alterseignung
Die Erzählung hat nur wenig Text und stellt in komprimierter Form in mehreren Stufen den Reifungsprozess vom Siebenjährigen dar, der noch in seinen heilen Kindheitsphantasien befangen ist, bis zum Jugendlichen, dem sich die Komplexität des Erwachsenenlebens mit allen seinen Problemen eröffnet.
Man kann das Buch auch als Graphic Novel für Erwachsene bezeichnen. In diesem Genre werden zur Zeit viele psychologische Entwicklungsgeschichten mit autobiographischem Hintergrund gezeichnet und auf den Markt gebracht. Man sollte sich bei dem vorliegenden Buch nicht durch den hohen Bildanteil täuschen lassen und es für ein Bilderbuch für das Bilderbuchalter halten. In der Empfehlungsliste ""Die besten sieben Bücher"" des Deutschlandfunks wurde die Alterseignung mit 8 Jahren für das Grundschulalter vorgeschlagen. Auch das ist noch zu niedrig angesetzt, es sei denn dass die Inhalte durch Vermittler beim Vorlesen oder dem Gruppengespräch in der Schule erarbeitet werden.

Es handelt sich hier um das Motiv des abwesenden Vaters, der durch Kinderphantasien kompensiert wird. Dieses Motiv wurde von vielen Kinder- und Jugendbüchern aufgegriffen. Die aktiv Phantasierenden waren in dem Fall aber die Kinder und nicht der Vater. In dem vorliegenden Buch ist deshalb neben dem Jungen, der mehrere Desillusionierungen und damit Annäherungen an die harten Realitäten des Erwachsenenlebens verarbeiten muss, die zweite Hauptperson der Vater, der für seine Sehnsüchte und Ängste seine spezifischen Bewältigungsstrategien entwickelt hat.

Noch etwas zur Problematik: Autor und Illustrator sind Italiener, das Buch erschien im Original in Rom. Für italienische Kinder ist das Problem allbekannt, dass der Vater lange abwesend ist, weil er sich als Gastarbeiter in der Fremde aufhält. Heute stehen die italienischen Gastarbeiter nicht mehr so im Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Heute wird das Bild von Türken bestimmt, die mit ihren Familien auf Dauer nach Deutschland gekommen sind.

Form
Der Text und die Bilder arbeiten mit vielen subtilen Andeutungen und Rückbeziehungen und mit Metaphorik, die sich dem aufmerksamen Leser und Betrachter erst im Nachhinein erschließen. So hat der Vater schon auf dem ersten Bild, das ihn als Pirat darstellt, einen merkwürdigen röhrenartigen Gegenstand umhängen, der sich erst nach dem Betrachten der Bilder mit Bezug zum Bergwerk als Grubenlampe identifizieren lässt. Ebenso wird erst dem kundig gemachten Leser klar, warum der Vater, der seine Piratengeschichten erzählt, einen rasselnden Atem hat. Auch das erste Bild vom Piratenschiff an einer Palmenküste sieht der Rezipient beim zweiten Durchlauf mit anderen, wissenden Augen, wenn er es noch einmal über dem Bett in der Arbeiterbaracke gesehen hat.

Die Illustrationen sind aquarellierte Bleistift- und Buntstiftzeichnungen. Die vibrierende Binnenzeichnung verleiht ihnen eine gewisse innere Unruhe. Die Figuren wurden teils ausgeschnitten und auf weißen Grund gestellt. Dann wieder arbeitet der Zeichner mit Bilderfolgen, bei denen comicartig mehrere Panels nebeneinander oder untereinander angeordnet werden. Am eindrucksvollsten sind die ganzseitigen atmosphärisch starken Bilder, die durch die Helligkeitsverteilung viel an Emotion evozieren.

Der hohen ästhetischen Qualität der Illustrationen entsprechen das überlegte Layout, die Gestaltung der gedruckten Texte und ihre Zuordnung zu den Bildern. Gelegentlich sind einige wichtige Wörter in roter Farbe gedruckt, dann wieder ganze Sätze durch ihre Größe hervorgehoben. Kleine geschlossene Textblöcke schwimmen in einer großen weißen Fläche, dann wieder sind einzelne Sätze davon losgelöst; einmal vollziehen sie in der Anordnung die Kontur einer Figur nach und begleiten sie. Am innovativsten ist die Seite, auf der hellgraue Textzeilen auf dunkelgrauem Grund die waagerechten Stollen des Bergwerks simulieren.

Zum Autor
Der Autor hat in Frankreich und Italien schon viel veröffentlicht, Kinderbücher, Bilderbuchtexte und Texte für Comics. Da er selbst auch Zeichner ist, entwirft er häufig auch schon die Storyboards für seine Illustratoren. Er sieht sich selbst als Wanderer zwischen den Genres.

Einsatz in der Schule
Es bieten sich nach der gemeinsamen Lektüre und Betrachtung von Text und Bild Gespräche über Vaterbilder an und über anwesende und abwesende Väter und ein allererster Versuch, sich in deren Perspektive hineinzuversetzen.
Im Kunstunterricht könnten sich Übungen mit der Gestaltung von selbst in Schreibschrift oder auf dem Computer in Druckschrift hergestellten Texten anschließen, die durch die Veränderungen in Typographie, Farbe und Anordnung den Inhalt eines beigeordneten
Bildes unterstützen.

[gsd Hamburg]

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Diese Rezension wurde verfasst von gsd.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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