Mein Bruder Charlie

Schlagwörter

• Freundschaft
• Gender/Geschlecht
• Historisches
• Krieg

Teaser

Thommo und sein Bruder Charlie sind während ihrer ganzen Kindheit und Jugend unzertrennlich. So folgt Thommo seinem älteren Bruder schließlich auch in den ersten Weltkrieg.

Beurteilungstext

Beginnend als eine Handlung im England des frühen 20. Jh. wird die Geschichte von Thommo, seinem Bruder Charlie und Molly, ihrer Freundin, schließlich zu einem eindrücklichen Bericht über das Leben und Sterben im ersten Weltkrieg. Das Leben von Thommo und seinem älteren Bruder Charlie ist nicht leicht, denn der Vater stirbt (ein Unfall, an dem sich Thommo mitschuldig fühlt) und die Mutter muss die Familie alleine ernähren - abhängig von dem Wohlwollen des Gutbesitzers, bei dem der Vater als Waldarbeiter angestellt war und in dessen Waldarbeiterhaus die Familie lebt. Doch Charlie verlebt eine relativ unbekümmerte Jugend, und lernt erst nach und nach die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens kennen. Dazu gehört auch die Eifersucht, die er empfindet, als aus der Freundschaft zwischen seinem älteren Bruder und Molly - zu der sich auch Thommo sehr hingezogen fühlt - Liebe wird.
Der Roman wird so zu einem äußerst interessanten, dabei zugleich spannenden Einblick in das alltägliche Leben zu dieser Zeit, in dieser Gesellschaftsschicht. Das Thema erster Weltkrieg schleicht sich in diese Geschichte, so wie er sich ganz allmählich und zuerst kaum wahrgenommen in Thommos Leben schleicht. Doch im letzten Viertel des Buches ist er das bestimmende Thema, denn Charlie meldet sich freiwillig und sein Bruder Thommo, obwohl noch zu jung, folgt ihm. Beide erleben nun eine völlig neue Welt mit neuen Begegnungen und Herausforderungen, die schließlich im Kampfgeschehen eskalieren: Charlie, den die Leser als verantwortungsbewußten und selbstbewußte jungen Mann kennen gelernt haben, verweigert seinem Vorgesetzten im Kampf den Gehorsam. Einerseits, da sein Befehl die Soldaten in den sicheren Tod führten, vor allem aber, um sich um seinen verletzten Bruder Thommo zu kümmern, um ihn zu retten. Dies gelingt ihm auch, doch Charlie wird aufgrund seiner Befehlsverweigerung zum Tode verurteilt.
Auf diesen überraschenden Schluß steuerte auch der Aufbau des Buches unaufhaltsam hin, denn jedes Kapitel der Rückerinnerung an seine Kindheit bis zum Zeitpunkt der Hinrichtung, beginnt mit einer Zeitangabe beginnend am Abend vor der Hinrichtung und einigen Gedanken Thommos, die zunächst nur verdeutlichen, dass er sich in Frankreich, im Krieg, befindet.
Und wenn die Verurteilung Charlies und die daraus resultierende Hinrichtung auch “nur” den traurigen Höhepunkt des Buches darstellt, so ist doch das genau das, worum es Michael Morpurgo in seinem Buch letztendlich ging: Um die Erinnerung an die über 306 Soldaten der britischen Armee und der Armeen des Commonwealth, die wegen Desertation und Feigheit, oder auch nur, weil sie auf Wachposten eingeschlafen waren (Angaben aus Morpurgos Nachwort), zum Tode verurteilt wurden.
Suptiler und eindrücklicher hätte der Autor sein Anliegen nicht vorbringen können, denn durch die Geschichte Thommos, der sein Leben mit seinem Bruder Charlie erzählt, lernt der Leser nach und nach den Menschen Charlie kennen, kann nachvollziehen, wie er zu seiner Entscheidung der Befehlsverweigerung kam und welchen Mut diese Entscheidung einem Menschen abverlangt.
In seinem Nachwort weist Morpurgo auf dieses schwarze Kapitel in Englands Geschichte hin und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, dass - auch angeregt durch sein Buch - die britische Regierung eine Amnestie für alle 306 Männer erläßt.