Marco W - Meine 247 Tage im türkischen Knast

Autor*in
Weiss, Marco
ISBN
978-3-86631-007-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
200
Verlag
Hamburger Kinderbuch
Gattung
Krimi
Ort
Hamburg
Jahr
2008
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,95 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Versuch eines jungen Mannes, sich seine Anspannung abzuschreiben: Vom unbekümmerten Schüler zur Figur des öffentlichen Interesses geworden, der mit dem Vorwurf, ein Mädchen vergewaltigt zu haben, sogar für diplomatische Verwicklungen sorgte. Noch schlimmer aber sind seine Erfahrungen im Gefängnis eines Landes, das so gar nicht unseren Standard aufweist.

Beurteilungstext

Marco W. machte mit seinen Eltern Urlaub in einem Tourismuszentrum in der Türkei. Um in die Disco oder Gaststätten zu gelangen, musste man im Besitz eines grünen Armbands sein, also älter als 16 Jahre. Die jüngeren erhielten ein weißes Band. Kurz vor Ende des Urlaubs lernte er eine Gruppe Engländer kennen. Marco beschreibt sehr ausführlich, dass diese Gruppe auf "Party machen" aus war. Sie tranken viel Alkohol, die Mädchen waren sehr "offenherzig" gekleidet. In der letzten Nacht nun erzählt er von verschiedenen Zufällen, die dazu führten, dass er deutlich nach Mitternacht in einem fremden Zimmer einen vorzeitigen Samenerguss hatte. Das Mädchen aber erzählte die Geschichte ihrer Mutter wohl ganz anders. Am nächsten Abend, kurz vor der Heimreise, wurde Marco verhört und verhaftet. Vom 11. April 2007 (Anm.: Druckfehler in der Zeittafel) bis Mitte Dezember 2007 blieb er in Untersuchungshaft. Der Prozess ist nach dem 11. Gerichtstermin im November 2008 immer noch nicht abgeschlossen, Marcos deutsche Rechtsanwälte haben aus Protest gegen die Veröffentlichung dieses Buchs ihr Mandat niedergelegt. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Wir beschäftigen uns mit diesem Jungen und seinem "Fall" auf ganz verschiedenen Ebenen. Zunächst einmal ist da die Sensationsgier unserer Gesellschaft, die teilhaben will am Schicksal anderer. Wenn es keine echten Personen gibt, so verlieren wir uns gern in die ausgedachten Welten einer Seifenoper. Hier haben wir es mit einer wirklichen Person zu tun - umso besser. Da können wir versuchen, uns den deutlichen Unterschied zwischen "Doktorspielen", Petting, Neugier und Sexspielen klarzumachen. Die dritte Ebene ist die der "Gewalt", die auf vielfältige Art und Weise bei Handlungen im Spiel sein kann. Die vierte ist in moralischen Werten zu finden, Nummer fünf ist die Frage der Aufsichtspflicht von Eltern. Und die sechste ist die Frage der Rechtsprechung - bei uns und in der Türkei und anderswo.

Beginnen wir mit der letzten Ebene. Vielen Menschen war vor dem "Fall Marco W." bestimmt nicht klar, dass auch bei uns sexuelle Handlungen an Kindern (also unter 14 Jahren) grundsätzlich mit Strafe bedroht sind - egal, welches Alter der Täter hat (die Strafmündigkeit beginnt mit 14): StGB § 176 "Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren vornimmt, ... wird mit Freiheitsstrafe ... bestraft." und StGB § 179 "Wer eine andere Person, die ... körperlich zum Widerstand unfähig ist, dadurch missbraucht, dass er ... sexuelle Handlungen an ihr vornimmt ..., wird mit Freiheitsstrafe ... bestraft."
Marco, damals gerade 17 Jahre alt, schreibt glaubhaft in seinem Buch, dass nicht er es war, der an dem Mädchen diese Handlungen vollführte, sondern dass im Gegenteil das Mädchen diese Handlungen betrieb. Zudem habe sie ihm ebenso glaubhaft ein falsches Alter genannt. Dieser Frage hat das Gericht in der Türkei nachzugehen und eine Entscheidung zu fällen.
Marcos Vorwurf an die Gerichtsbarkeit ist allerdings, dass sie genau das nicht machten, sondern er sich unter für ihn kaum vorstellbaren Bedingungen "247 Tage im türkischen Knast" (Untertitel) befand. Er beschreibt auf über 100 Seiten sein Leben im Gefängnis, die Machtstrukturen zwischen den Gefangenen, Schlafentzug, fehlende Hygiene, seinen Kontakt "nach draußen", die immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf baldige Freilassung aus der "Ausländerzelle D 15", die Freilassung, die von RTL bezahlte Heimreise, den Rückblick auf Mahnwachen in ganz Deutschland, Spenden, Friedensgebete, Berichte in Spiegel und Stern.

Der Text ist in kurzen Absätzen gedruckt, die deutlich mit einer Leerzeile getrennt sind. Einige Fotos und gescannte Briefe oder Faxe gliedern überdies und verhelfen zu noch mehr Authentizität (siehe auch http://www.marcos-schicksal.de). Bleibt noch eine Betrachtung darüber, ob erstens das Schreiben dieses Buches nötig war und zweitens deren Veröffentlichung. Das Schreiben dürfte ein therapeutischer Vorgang sein, die Veröffentlichung allerdings zieht den moralischen Vorwurf nach sich, aus seinem Schicksal Geld machen zu wollen. Die Geld-Spender und Mahnwachen-Begleiter werden sich hintergangen fühlen.

Wenn wir in einer Welt leben, in der ein Dieter Bohlen zwei Biografien (Nichts als die Wahrheit, Bohlenweg) und noch zwei Bücher erfolgreich veröffentlicht (das erste wurde sogar verfilmt), haben wir hier wenigstens die Chance, uns auf einer der o.g. Ebenen zu bewegen und daraus Gewinn zu ziehen.

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Diese Rezension wurde verfasst von uhb.
Veröffentlicht am 01.01.2010