Manchmal muss man Pferde stehlen

Autor*in
Michaelis, Antonia
ISBN
978-3-7512-0028-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Ceccarelli, Simona M.
Seitenanzahl
240
Verlag
Oetinger
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2022
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Titel „Manchmal muss man Pferde stehlen“ lässt an ein einfaches „Pferdebuch“ denken, doch wer die renommierte Autorin Antonia Michaelis und ihre poetischen Texte kennt, der ahnt, dass sich hinter diesem Titel mehr verbirgt als eine einfache Geschichte von Kindern und Pferden. Und so ist es dann auch: Antonia Michaelis legt erneut einen ästhetisch komplexen Kinderroman vor, in dem sie sozialkritische Themen anfasst und sensibel konzipierte Figuren antreten lässt. Auch die Spannung kommt in dieser fulminanten Ausreißergeschichte nicht zu kurz.

Beurteilungstext

Im Zentrum des Kinderromans stehen Tariq und Anna, die verschiedener kaum sein könnten. Tariq ist aus Afghanistan vor den Taliban geflohen, Anna hingegen hat ihre Sprache verloren, nachdem die manisch-depressive Mutter sie und den Vater verlassen hat. An einer Pferdeweide, auf der die die beiden Pferde des alten Hansen grasen, freunden die beiden Kinder sich an. Hansen steht unter Druck, weil er sich weigert, auf moderne Mähmaschinen umzusteigen und immer noch auf die Kraft der Pferde setzt. Nun will man ihn davon überzeugen, seinem Hof, das Biolabel „aufzudrücken“, aber dem alten Bauern will sich der Sinn nicht so recht erschließen. Von alldem wissen Tariq und Anna zunächst nichts, sind belegt von eigenen, starken Problemen, die sie langsam und vorsichtig in den Dialog miteinander bringen. Von Tariq erfahren wir, dass er eine dramatische Flucht hinter sich hat, auf der er seinen großen Bruder verloren hat, den er nun verzweifelt sucht. Anna glaubt, dass ihre Mutter die Familie ihretwegen verlassen hat, weil sie zu laut war. Der Vater ist unfähig, mit seiner Tochter offen zu sprechen und versucht stattdessen, sie zu einer Reittherapie zu bringen. Doch sowohl Anna als auch Tariq fühlen sich von den Erwachsenen unverstanden. Tariq ist tief traumatisiert und fühlt sich von den Taliban bedroht, die auf seine (modernen) Eltern geschossen haben, was zu aggressiven Ausbrüchen gegen die Erzieher*innen im Heim führt, in dem er untergekommen sind. Doch: Tariq kann reiten! Über die Zuneigung zu den Pferden, welche die Kinder liebevoll Apfelmütze und Wackelpo taufen, finden Anna und Tariq einen Weg zueinander. Was folgt, ist eine rasante Ausreißer-Story, wie Antonia Michalis sie bereits in den „Tankstellenchips“ (2018) vorgelegt hat. Während sich diese Roadnovel an Jugendliche richtet und an städtischen Schauplätzen angesiedelt ist, sind die kindlichen Ausreißer*innen hier hoch zu Ross auf dem Land unterwegs, fliehen durch ein Sommerparadies in Richtung Ostsee, wo Tariq den Aufenthaltsort seines großen Bruders wähnt. In dramatischen Szenen reiten sie durch das Land, finden dabei sich selbst und überwinden Ängste. Das Motiv des Ausreißens bindet sich an die Elternferne und die Verdichtung von Raum und Zeit (im Sinne des von Bachtin sogenannten Chronotopos). Wenngleich die populäre Ausreißerin Pippi Langstrumpf mit weniger harten Problemen zu kämpfen hat als Michaelis‘ Protagonist*innen, ist dem modernen Kinderroman die Nähe zu Astrid Lindgren deutlich eingeschrieben: Auch Pippi riss mit Tommy und Annika auf dem Rücken eines Pferdes aus (natürlich ohne Sattel, sonst wäre das Freiheitsgefühl ja nicht perfekt!), und gleich der Auftakt des Romans erinnert frappierend an „Ronja Räubertochter“:

„Es begann in einer Gewitternacht.
Der Donner rollte über Wiesen, Regen peitschte die Küste. Vermutlich sagten selbst die Fische zueinander: ‚Was für eine ungemütliche Nacht!‘ Und in einem Stall, der sonst gemütlich war, standen zwei Pferde.“ (S. 9)

Anklang finden hier auch die poetische Sprache und die dichten Naturbeschreibungen, welche die Texte von Antonia Michaelis grundsätzlich auszeichnen. Mit diesem Kinderroman schließt sie an die ästhetische Sprachkraft ihrer früheren Werke an und stellt einmal mehr ihre Vielseitigkeit unter Beweis. Nachdem die Autorin zwei Jahre mit ihrer Familie auf Madagaskar gelebt und dort ein Schulprojekt initiiert hat, spielen neue Romane dort („Weil wir träumten“, 2021) oder anderen exotischen Gegenden wie dem Amazonas („Die Amazonas-Detektive“, ab 2021), die Geschichte von Tariq und Anna hingegen ist nahe der Ostsee verortet. Gemeinsam ist allen Erzählungen, unabhängig von den Schauplätzen, die Tiefe der Figurenkonzeption und das Plädoyer für Mitmenschlichkeit, das Ausdruck findet, wenn Kinderfiguren mit Traumata im Zentrum stehen: Das gilt auch für Tariq und Anna. Beide sind starke Figuren, die trotz der belastenden Erfahrungen, einen Weg finden, sich ihren Problemen zu stellen und die Sprache wiederzufinden. Genau das bringen die Illustrationen von Simona M. Ceccarelli passgenau ins Bild.
Ein kritischer, durch und durch empfehlenswerter Kinderroman – sowohl für die häusliche als auch für die schulische Lektüre.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Kirsten Kumschlies; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 13.08.2022

Weitere Rezensionen zu Büchern von Michaelis, Antonia

Michaelis, Antonia

Die Amazonas-Detektive: Gefahr im Regenwald

Weiterlesen
Michaelis, Antonia

Die Amazonas-Detektive - Ermittlungen im Nationalpark

Weiterlesen
Michaelis, Antonia

Die Bucht des blauen Oktopus

Weiterlesen
Michaelis, Antonia

Die Bucht des blauen Oktopus Magisches Sommer-Abenteuer in den Meeren Griechenlands

Weiterlesen
Michaelis, Antonia

Weil wir träumten

Weiterlesen
Michaelis, Antonia

Im Schatten des Märchenerzählers

Weiterlesen