Märchenland für alle

Autor*in
Nagy, Boldizsár M.
ISBN
978-3-8310-4509-9
Übersetzer*in
Kuznge, ChristinaMalomvölgyi, Tünde Tankó, Timea
Ori. Sprache
Ungarisch
Illustrator*in
Bölecz, Lilla
Seitenanzahl
192
Verlag
Dorling Kindersley
Gattung
Buch (gebunden)Märchen/Fabel/Sage
Ort
München
Jahr
2022
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre8-9 Jahre6-7 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüreVorlesen
Preis
16,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Kann es sein, dass ein Märchenbuch im Herbst 2021 eine politische Diskussion auslöst und das sogar in einem EU-Land? Kann es sein, dass dieses Märchenbuch als ein Angriff auf angeblich traditionelle Familienwerte verstanden wurde? Kann es sein, dass ..... Ja, so war es und trotzdem - oder gerade deswegen - hat es sich zu einem Bestseller entwickelt. Was ist nun das Besondere, das Skandalöse an diesem so harmlos erscheinenden Märchenbuch?

Beurteilungstext

Im Dezember 1812 bzw. im Januar 1813 erschien die erste Auflage der Märchensammlung der Brüder Grimm. Noch waren sie nah an den mündlichen Erzählungen. Und so war es auch kein Wunder, dass z.B. in dem Märchen "Rapunzel" die Protagonistin von dem Prinzen, der sie im Turm besucht, schwanger wird. Sie lebten "lustig und in Freuden eine geraume Zeit".... worauf Rapunzels "Kleiderchen" so eng wurden, dass sie nicht mehr passten (Hans-Jörg Uther Febr. 2006). Diese Tatsache wurde in den folgenden Ausgaben abgeschwächt und so wunderte man sich wohl, weshalb Rapunzel plötzlich mit Zwillingen in der Wüste umherirrt.
Vornehmlich Wilhelm Grimm hat die Märchen umgeschrieben. Seinem Bruder Jacob schrieb er am 28.6.1812. "Die Märchen will ich umzuschreiben anfangen, wenn ich bei ....bin." (Grimm/Schoof 1960, S. 101). Dieses Umschreiben der Märchen hatte einen gesellschaftlichen Grund. Man wollte die Märchen dem politischen Zeitgeist anpassen und daraus gefällige Erzählungen für Kinder gestalten. So wurde die Ausdrucksweise präzisiert, Lehn- und Fremdwörter durch deutsche Ausdrücke ersetzt, die formelhaften Begriffe wie "Es war einmal..." eingefügt und christliche und vor allem zeitgemäße moralische Tugendlehren verstärkt betont.
Aus den verschiedensten Wurzeln haben die Brüder Grimm ihre Märchen zu den bekannten Kinder- und Hausmärchen in mehreren literarischen Schritten geformt. Diese Märchen wurden wieder und wieder neu erzählt. Walt Disney hat die sieben Zwerge personifiziert, ihnen Namen gegeben und damit die Eindimensionalität durchbrochen.
Und wenn sie dem Zeitgeist angepasst worden sind, so gab und gibt es auch Märchen, die dem vorherrschenden hierarchischen Denken widersprochen haben: Schweinehirten und Schneider wurden Könige und aus Müllertöchtern Königinnen. Adel und Nicht-Adel hatten sich immer vermischt, bzw. der Wunsch dazu war vorhanden, auch wenn die breite Öffentlichkeit noch bis in die späten 90er Jahre des letzten Jahrhunderts damit Probleme hatte. Oder war es nur die Yellow Press? Als der norwegische Kronprinz 2001 Mette-Marit heiratete gab es zumindest in der Presse einen Aufruhr. Sie hatte einen unehelichen Sohn und angeblich Drogenerfahrung.
Märchen ändern sich, werden verändert, dem Zeitgeist angepasst. Und so ist es auch kein Wunder, wenn im Herbst 2021 in Ungarn eine Märchensammlung erschienen ist, die einen ungewöhnlichen Blick auf bekannte und unbekannte Märchen wirft. Da gibt es einen drei-ohrigen Hasen, also einen, der eine Behinderung hat und trotzdem zum Retter des Waldes wird. Da hat die Hexe von Hänsel und Gretel eine Vorgeschichte, die ihr Handeln erklärbar aber nicht entschuldbar macht. Da möchte Bambi unbedingt ein Geweih, da es kein "Mädchen", sondern ein "Junge" sein möchte. Aschenputtel ist männlich und verliebt sich in einen Jungen. Und ein Däumelinchen - es gibt ja so unglaublich viele in der Welt der Märchen - flieht aus der Ehe, die sie einengt.
Diese Sammlung ist entstanden, da "Der Lesbenverband Labrisz [...] die Autor*innen dieses Buches gebeten [hat] eine ihnen wichtige klassische Geschichte aus einem besonderen Blickwinkel neu zu erzählen." (aus dem Vorwort des Herausgebers). Und man hat Lilla Bölecz, eine ungarische Illustratorin von Weltruf, gebeten, diese neu-erzählten Märchen zu illustrieren, da sie Märchen mag und ihren tieferen Sinn erspüren kann - was ihr auch absolut gelungen ist.
Man mag als Leser*in sicher nicht alle Märchen als gleich gelungen empfinden - das ist Ansichtssache - doch der Blickwinkel ist neu und erfrischend.
Dass dieses Kinderbuch (auch und erst recht für Erwachsene geeignet) in Ungarn monatelang politisch diskutiert worden ist, zeigt den Zeitgeist. Die Regierung hat dieses Buch auch als Anlass genommen, um homo- und transphobische Gesetze einzuführen. Konservative Kreise um Victor Orbán sahen dieses Buch als Angriff auf die vermeintlichen traditionellen Familienwerte.
Der Zeitschrift Stern ist es gelungen, diese Märchensammlung nach Deutschland zu bringen, um für Toleranz und Demokratie zu werben, Werte, die es auch in Ungarn gibt.
Das Buch endet mit einem fröhlichen Gedicht, indem ein Prinz sich in einen Prinzen verliebt. Nur schade, dass die Illustration eine Seite zu früh eingeblendet ist. Somit verrät sie den Gag.
Mir persönlich hat das Märchen "Das große Abenteuer der winzigkleinen Panna" am besten gefallen. Pannas Vater sagt: "Größe lässt sich nicht daran messen, wie lang und wie kräftig jemand ist. Das Maß wahrer Größe ist die Liebe im Herzen." (S. 118). Dies erinnert an Matthäus 19, 29-30 und war und ist noch immer eine Provokation für alle Diktatoren. "Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten."
Ein absolut wichtiges Buch, das seinen Beitrag gegen Diskriminierung und Rassismus leistet und Toleranz und Demokratie fördert.

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Diese Rezension wurde verfasst von WaMi; Landesstelle: Bayern.
Veröffentlicht am 17.06.2022