Mädchen zwischen den Zeilen
- Autor*in
- Krupicka, Sylvia
- ISBN
- 978-3-95996-272-8
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- –
- Seitenanzahl
- 148
- Verlag
- Periplaneta
- Gattung
- Erzählung/RomanTaschenbuch
- Ort
- Berlin
- Jahr
- 2024
- Lesealter
- 12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
- Preis
- 14,50 €
- Bewertung
Schlagwörter
Teaser
Eine Menge emotionalen Ballast schleppt Simone aus Ostberlin mit sich. Wie damit umgehen, wenn das familiäre Umfeld ein maßgeblicher Teil des Problems ist? Obendrein die ständige Furcht vor dem wachsamem Volkspolizist, der seine Nase in jede Angelegenheit steckt und im Gegensatz dazu ihre Gefühle für Mario... Leichte Kost ist dieses Gefühlschaos nicht gerade!
Beurteilungstext
Simone – ein noch 12 Jahre junges Mädchen, wohnt in der Nähe vom Grenzgebiet in Ostberlin zusammen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder „Römi“. Mit dem versteht sie sich super, aber die Beziehung zu Vater und Mutter ist alles andere als stabil. Dass sie sich mit dem 15-jährigen Mario aus dem Hinterhaus auf dem Grenzgebiet getroffen hat, gefällt ihren Eltern beispielsweise gar nicht. Ebenso wenig begeistert von den Aktionen der Jugendlichen unmittelbar neben dem Grenzstreifen ist der für ihren Bezirk zuständige Volkspolizist. Ihm missfällt vor allem die Höhle, die Mario und René dort konstruiert haben. Die Familien der Jugendlichen geraten in sein Visier und das bedeutet für sie zu Hause nur Ärger. Ärger bekommt auch die nette Nachbarin Frau Schultz, bei der Simone so gerne Zeit verbringt, als die Stasi durch Simones Vater erfährt, dass die Seniorin vorhat, die Gemälde von Renés Vater in den Westen zu schmuggeln, sobald die Familie übergesiedelt ist. Zu der Zeit ist Simone gerade mit ihrer Familie im Urlaub. Als sie nach drei Wochen wieder nach Hause kommt, überfällt sie zunächst ein Fieber und mit einem Mal eine Gesichtslähmung. Sie muss sechs Wochen im Krankenhaus verbringen. Ihr mentaler Zustand verschlechtert sich. Zwar bekommt sie liebe Post von ihrer Schulklasse, doch der Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Bruder ist rar. Schließlich, als es bei einem Besuch ihres Vaters zu einer Konfrontation dessen mit Frau Schultz kommt, verliert sie vollends die Nerven. Ihre Ärztin legt ihr nach diesem Vorfall eine Therapie ans Herz und geht kurz vor Simones Entlassung in ein Gespräch mit ihren Eltern. Diese sind allerdings strikt gegen den Vorschlag der Ärztin und so wird die mittlerweile 13-Jährige ohne Weiteres entlassen. Ihre Freundin Kerstin und ihre Klasse nehmen sie willkommen heißend auf. Sie erhält vom Lehrer sogar die Leitung für ein Schulprojekt, das sich einer anteiligen Erschließung des Grenzgebietes widmet. Ihr Leben nimmt ansonsten wieder seinen gewohnten Gang – nur eventuell ohne Mario, der bei Simones neuem Anblick erschrocken weggeblickt hat, und ohne Frau Schultz, die nach dem Verrat in Westberlin geblieben ist.
Der Titel „Mädchen zwischen den Zeilen“ lässt sich auf eine vielseitige Art und Weise lesen. Simones Dasein ist in vielerlei Hinsicht ein „Dazwischen“. Schon allein ihr Wohnort ist durch das unmittelbar angrenzende Westberlin ein Grat, auf dem sie wandert. Sie steht mit ihren zwölf bzw. dreizehn Jahren gerade auf der Schwelle zwischen Kind- und Erwachsensein. Und insbesondere auf rein psychisch-mentaler Ebene ist Simone ein Mädchen zwischen den Zeilen. Sie ist gut in der Schule, hat in ihrer Altersgruppe ein freundliches Umfeld und keiner sieht es ihr an, doch hinter ihrer Fassade trägt sie eine emotionale Last mit sich, die nur durch penibles Hinsehen, Zuhören und Nachhaken erkennbar wird.
Eine offene Kommunikation mit ihrer Familie über ihre „Steingefühle“ ist ihr nicht möglich: Sie ist mit zu viel Angst verbunden. Kein Wunder: Schon ein Fehltritt in ihren alltäglichen Pflichten und zu Hause ziehen Gewitterwolken auf. Zudem fühlt sie sich von ihren Eltern regelmäßig nicht ernst genommen. Wenn sie einen Anlauf unternimmt, über ihre Lage zu sprechen, wird deutlich, warum: Sie lassen sie nicht ausreden, scherzen über ihre Aussagen, lenken vom Thema ab oder sind zu sehr um sich selbst versammelt. Darum sperrt Simone ihre negativen Gedanken, die sie vor allem im Dunkeln und in Albträumen heimsuchen, stattdessen, wie sie es beschreibt, in Einweckgläser und verwahrt sie tief in ihrem Gedächtnis: Sie unterdrückt ihre Emotionen und tut alles dafür, dass ihre Notizen darüber nicht von ihrer Mutter gefunden werden – was wohl gar nicht so einfach ist, weil diese offenbar regelmäßig ihre persönlichen Sachen durchsucht. Zusammen mit dem stets auftauchenden Volkspolizist und dem Wachturm direkt gegenüber der eigenen Wohnung trägt sie mit ihrem schnüffelnden Verhalten zu einer Atmosphäre der stetigen Überwachung bei. Obwohl in einer Vorabbemerkung des Romans darauf hingewiesen wird, dass die geschilderten Ereignisse und Personen eine Erfindung der Erzählerin sind, dürfte sich gerade diese angesprochene Atmosphäre durchaus an realen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen – aber natürlich auch an solchen von Erwachsenen der 70er orientieren. Die Autorin wird sich vermutlich ebenfalls an persönlichen Erlebnissen bedienen.
Den Verdacht, dass Simone ein Trauma mit sich trägt, bestätigen den Lesenden zum einen Frau Schultz – zum anderen die Ärztin Dr. Wabe. Ihnen beiden kann sie sich anvertrauen. Was ihr Unterbewusstsein konkret heimsucht, wird nicht explizit erklärt oder gezeigt. Einige Szenerien ihrer Albträume und Aussagen ihres Vaters lassen allerdings darauf schließen, dass es sich um eine Form von sexuellem Missbrauch durch den Vater handelt, den sie erlebt und verdrängt. Auch ihre so präsente Traurigkeit spricht für ein behandlungsbedürftiges Leiden. Der Auslöser ihrer Gesichtslähmung wird nicht diagnostiziert, sie wird jedoch ebenfalls psychosomatisch hervorgerufen sein. Ihren Eltern zufolge sind Probleme psychischer Natur aber nicht für fremde Ohren bestimmt und sollten ausschließlich im Familienkreis bewältigt werden. Der Vorschlag der Ärztin wird damit quittiert, ihre Kompetenz als Medizinerin anzuzweifeln. Auch diese skeptische Sichtweise auf psychische Erkrankungen und deren Behandlungsmethoden (die sich zum Teil leider auch in der Jetztzeit hält) dürfte einigen, die diese Zeit miterlebt haben, bekannt vorkommen – nicht unbedingt nur Menschen aus dem ehemaligen Ostdeutschland.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer am Ende der Geschichte bleibt zwar: Simone bewahrt die Telefonnummer der Psychologin, die sie von Dr. Wabe erhalten hat, genauso wie die neue Adresse von Frau Schultz versteckt auf – dass sie beide Orte und Personen in naher Zukunft aufsuchen kann, ist durch den fehlenden Telefonanschluss im Haus sowie die Unmöglichkeit, einfach so nach Westberlin zu fahren, allerdings so gut wie ausgeschlossen. So lässt einen die Geschichte etwas bedrückt und fragend zurück. Fragen, die natürlich ein Anreiz zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist der DDR sein können oder die zum Gespräch mit der Familie oder der Schulklasse anregen. Erwachsene wiederum können mit Simones Geschichte auf ihre eigene Jugend zurückblicken und auf diese Weise erneut die Umstände ihres Heranwachsens reflektieren. Ein intergenerationeller Austausch über den Stoff bietet sich hier ebenfalls gut an.
Anhand der Fußnoten, die in fiktionalen Texten prinzipiell ein geschickter Kunstgriff sein können, um Fakten einzustreuen, wird deutlich, für wen das Buch geschrieben ist: Jugendliche, die im Westen aufgewachsen sind oder zumindest solche, die mit den Gegebenheiten der DDR bisher nur geringfügig zu tun hatten. Die Fußnoten sind in dieser Geschichte allerdings mehr Mittel zum Zweck, weil sie zum Teil leider mit dem Erzählduktus und der adressierten Instanz der Erzählerin kollidieren. Die Geschichte ist aus der Sicht von Simone geschildert. Wen spricht sie mit ihren Erläuterungen an? Sie würde wohl eher zu ihrem eigenen Umfeld, als zu Jugendlichen der Jetztzeit sprechen. Und jenes müsste mit den erklärten Begriffen (Volkspolizist, SED u. v. m.) – die zum Teil gar keiner Erklärung bedürfen (wie etwa „Milchkanne“) – durchaus vertraut sein. Auf diese Weise fällt die eigentliche Retrospektion aus der Jetztzeit auf die DDR auf. Bis auf Weiteres sind Simones Gedanken nahbar vermittelt. Sehr eindrücklich ist ihr Verhältnis zu ihren extremen Gefühlsausbrüchen. Diese sind, ebenso wie ihre Albträume, sehr plastisch beschrieben. Die Protagonistin vergleicht ihre Stimmung oft mit Witterungsverhältnissen. Dadurch wirkt sie sehr reflektiert und ehrlich gegenüber ihrer adressierten Instanz. Sie macht den Eindruck, für eine Therapie empfänglich zu sein. Leider bekommt sie in ihrer eigenen Familie nicht die Chance, über ihr Inneres reinen Tisch zu machen.
Anmerkung
Ich halte das Buch für eine geeignete Schullektüre, bei der eventuell die Eltern oder Menschen mit unmittelbaren Erfahrungen aus dem ehemaligen Osten miteinzubeziehen. Ein intergenerationeller Austausch über den Stoff kann ungemein bereichern.
Insbesondere, wenn das Buch institutionell Einsatz findet, sollte dort, wo in der Geschichte sexueller Missbrauch und Gewalt angedeutet werden, allerdings eine Triggerwarnung gesetzt werden. Denn man kann nie mit voller Gewissheit sagen, was für einen Bezug Schüler*innen zu etwaigen Themen haben.