Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist

Autor*in
Nejar, Marie
ISBN
978-3-499-62240-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
252
Verlag
Rowohlt
Gattung
Ort
Reinbek
Jahr
2007
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
8,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Lebensgeschichte der Marie Nejar, aufgewachsen im St. Pauli der Nazizeit als “Mischlingskind”. Mit Glück überlebt sie den Krieg und wird als Schlager- und Filmstar Leila Negra berühmt. Als die ihr zugedachte Rolle immer weniger zu ihrem Selbstverständnis passt, beendet sie ihre Karriere und schult um - auf Krankenschwester. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitet sie in diesem Beruf und lebt heute noch in Hamburg.

Beurteilungstext

Die Zeit des Nationalsozialismus war gekennzeichnet von Druck und Repression für Jedermann, für viele sagt das aber noch viel zu wenig. Jeder nämlich, der im Einflussgebiet Deutschlands nicht den verqueren Rassenvorstellungen der Nazis entsprach, wurde mit Lebensgefahr und Verfolgung bedroht und überlebte diese Verfolgung oft nicht. Das galt nicht nur für Juden, sondern genau so für Sinti und Roma, Homosexuelle und politisch Missliebige. Es galt aber auch für Menschen wie Marie Nejar, die als Ergebnis einer Beziehung mit “Rassenschande” gesehen wurden, als “gemischtrassig” und damit minderwertig.
Bereits die Großmutter dieser 1930 geborenen Frau hatte eheliche Kinder mit einem Farbigen. Maries Mutter, die als Musikerin auf St. Pauli ihr Geld verdiente, wurde ebenfalls nach einer Liaison mit einem Afrikaner schwanger, lehnte das uneheliche Kind aber ab und gab es zunächst zur Adoption frei. Als die Großmutter davon erfuhr, holte sie das kleine Mädchen zu sich und sorgte bis nach Kriegsende für Marie. Sie versorgte Marie mit großem Einsatz, aber die Erziehung bei ihr war streng und autoritär und von wenig Verständnis geprägt. 1949 kam Marie eher durch Zufall zum Singen, wurde von einem österreichischen Produzenten entdeckt und als “Leila Negra” vermarktet.
Dass sie zu dieser Zeit bereits Mitte bis Ende Zwanzig war, aber stets noch den naiven Teenager spielen musste, bedrückte sie mehr und mehr, so dass sie ihre Karriere beendete und “zivil” wurde.
Diese sehr kunterbunte und oft gefährdete Kindheit und Jugend berichtet Marie Nejar in diesem Buch, das mit Hilfe von Regina Carstensen aufgeschrieben wurde. Sie erzählt aus dem Blickwinkel der erwachsenen Frau, mit den Erfahrungen des ganzen Lebens, doch sie erinnert sich sehr genau an die Sichtweise in der jeweiligen Zeit.
Und obwohl manche Phasen und Erlebnisse ihres Lebens durchaus spektakulär waren, macht sie vieles Erlebte bewusst unauffällig und klein.
Natürlich hatte sie Glück, dass ihre direkte Umgebung sie vor dem Schicksal echter Verfolgung oder zumindest Sterilisation bewahrten, hatte Glück, dass sich manches auch in schwerer Zeit zum Guten fügte. Natürlich galt sie einige Jahre als berühmter Star, hatte sicher Geld und Prominenz, wurde bewundert und beneidet, auch hofiert. Wieviel kleine Nadelstiche der Missachtung, Abwertung, Lieblosigkeit sie aber allein von ihrer leiblichen Mutter erfuhr, wieviel Demütigungen durch Fremde und Freunde, wieviel Rassismus ihr auch nach dem Krieg noch begegnete, das kommt hier zwar vor, wird aber eher verniedlicht und in den Nebensatz geschoben.
Dafür gibt es sicher mehrere Gründe. Zum einen waren die wirklich bedrohlichen Situationen doch vergleichsweise dünn gesät, vor allem aber hatte die kleine wie die große Marie einen glücklicherweise fast unerschöpflichen Vorrat an Naivität, positiver Grundeinstellung und Fähigkeit zum Zurückziehen in und auf sich selbst, der ihr die schmerzhaftesten Konfrontationen abfederte. Und die harte Schule ihrer Großmutter, so gefühllos sie auch manchmal erscheint, stählte sie auch für das Zusammentreffen mit den vorhandenen Widrigkeiten ihres Alltags.
Das Wichtigste, und damit auch die herausragende Botschaft dieses Buches, dürfte aber ihr fast unerschütterlicher Optimismus, ihr Vertrauen auf den guten Ausgang von Krisen sein. Auch wenn sie nicht viel darüber spricht: Diese Marie Nejar liebt die Menschen und vertraut ihnen mehr, als man nach ihren Erfahrungen annehmen möchte. Und wann immer irgendjemand sie wieder einmal enttäuscht hat (und das ist oft geschehen), sie findet einen Grund, warum insgesamt doch etwas Schönes dabei war.
Das werden viele Heutige mit der heute verbreiteten Anspruchshaltung blauäugig und schönfärberisch empfinden, aber es half in Maries Fall, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen, mit einem Lächeln und einer unglaublich erscheinenden Lebenskraft. Dass die Widrigkeiten dennoch registriert wurden und keineswegs ganz spurlos vorübergingen, beweisen die Fotos, die vor allem durch den wissend-melancholischen Blick beeindrucken, der die einem ihrer Lieder entnommenen Buchtitel sehr sprechend illustriert.
Dem heutigen, jugendlichen Leser erschließt sich jedenfalls in diesen Seiten eine weithin unbekannte Seite des Lebens unter dem Hakenkreuz, eine Sicht außerhalb von KZ und Vernichtung, alltäglicher und harmloser wirkend, aber doch eindringlich geprägt von den Nöten und Gefahren eines kleinbürgerlichen Alltags im Faschismus. Dies ist weder die Rechtfertigung eines Mitläufers (das durfte sie gar nicht sein!) noch ein “Bericht aus der Hölle”, es ist ein Schicksal, das erstaunliche Tiefen und Höhen in kurzer Zeit beinhaltete, in manchem ganz “durchschnittlich” war und doch aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fiel.
Vor allem aber ist es die Lebensgeschichte einer Frau, die Höhen und Tiefen lange Zeit auf Grund von Fremdbestimmung erfuhr, bis sie endlich, relativ spät, ihr Schicksal selbst in die Hand nahm und widersprach. Ich würde diese Frau gerne kennenlernen!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von bh.
Veröffentlicht am 01.01.2010