Lotusfüße

Autor*in
Li, Kunwu
ISBN
978-3-03731-137-0
Übersetzer*in
Schüler, Christoph
Ori. Sprache
Französisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
128
Verlag
Edition Moderne
Gattung
BiografieComicTaschenbuch
Ort
Zürich
Jahr
2015
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
19,80 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

In seiner Graphic Novel Lotusfüße erzählt der Comicautor Li Kunwu die Geschichte des armen Bauernmädchens Chunxiu und thematisiert damit die äußerst fragwürdige chinesische Tradition der „gebundenen“ Füße, auch Lotus- oder Lilienfüße genannt.

Beurteilungstext

Li Kunwu widmet sich mit seiner Graphic Novel Lotusfüße thematisch der chinesischen Tradition des Füßebindens und leistet mit der Erzählung der Lebensgeschichte seines Kindermädchens einen interessanten Beitrag zur populären Mentalitätsgeschichtsschreibung Chinas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Erzählung handelt von der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Chunxiu. Um ihr den sozialen Aufstieg durch die Einheirat in eine reiche Familie zu ermöglichen, entscheidet sich die Mutter für das Binden der Füße ihrer Tochter. Das Mädchen wächst zur jungen Frau heran, und aufgrund ihrer außergewöhnlichen Lotusfüße wird sie von zahlreichen Verehrern umworben. Doch noch bevor sie den ihr vorbestimmten Weg gehen kann, werden mit der Errichtung der Republik das Füßebinden und arrangierte Ehen durch die Revolutionäre der nationalistischen Kuomintang-Partei verboten. Sie flieht auf das Land und kehrt erst im hohen Alter in die Stadt zurück, um sich dort als Kindermädchen eines kommunistischen Parteikaders zu verdingen. Unter dem Eindruck der Wirren der chinesischen Kulturrevolution in den sechziger Jahren erzählt Chunxiu dem jungen Kunwu die Geschichte ihres Lebens.

Der im kaiserlichen China weit verbreitete Brauch der Lotusfüße beruhte auf einem extrem fragwürdigen Schönheitsideal, das eine Schuhgröße 17 (10 cm Fußlänge!) als Idealmaß ausgab und den absichtsvoll verkrüppelten Frauenfüßen eine außerordentlich erotische Anziehungskraft zuschrieb. Um dieses Maß zu erreichen, wurden den Frauen bereits in sehr jungen Jahren, d.h. im Alter zwischen Fünf und Zehn, die Füße äußerst eng bandagiert und die Zehen auf diese Weise unter die Ferse gebogen. So wurde einerseits das Wachstum der Füße unterbunden und zudem eine als attraktiv empfundene, sehr schmale und nach vorn spitz zulaufende Form erreicht. Abgesehen von der Tortur des Bindens bei den jungen Mädchen, denen dabei die Zehen gebrochen wurden, litten die betroffenen Frauen zeit ihres Lebens unter Schmerzen und waren nur noch eingeschränkt bewegungsfähig. Dass es sich bei der Praxis des Füßebindens um eine durch ihre Ästhetisierung nur sehr dürftig kaschierte Machtpraxis handelte, die die Frauen so den Regeln einer patriarchalen Gesellschaftsordnung in physischer und psychischer Hinsicht unterwarf, daran lässt Kinwus Darstellung keinen Zweifel: In einer Sequenz spielen die kleine, bis dahin noch unversehrte Chunxiu und ihre Freunde Fangen. In einem breitformatigen Panel setzt der Zeichner einzig die Füße der spielenden Kinder in einer Nahaufnahme groß ins Bild, kommentiert von einem Kinderreim: „Einmal gefasst, musst du stehn. Beim zweiten Mal darfst du wieder gehen! Doch bist du erst in meinen Fängen, bleibst du dort für immer hängen.“ Diese Szene verweist subtil auf das Verständnis der Geschlechterrollen hin, das im kaiserlichen China bis zur Abdankung des letzten Kaisers im Jahre 1912 herrschte. Die Mode der Lotusfüße zementierte die unterwürfige und abhängige Position der Frau gegenüber dem Mann in der Familie. Ihre dadurch stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit zwang sie in den Haushalt und letztlich auch zur Treue gegenüber ihrem Ehemann.

Li Kunwus Graphic Novel stellt allerdings nicht einfach eine Abrechnung mit den überkommenen Traditionen der chinesischen Kaiserzeit dar. Chunxius Lebensgeschichte ist in einer Übergangszeit angesiedelt, in der die in China politisch Verantwortlichen das Image eines rückständigen, feudalen Agrarstaates abzuschütteln versuchten. Der Versuch einer radikalen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft im Zeichen der Moderne und der Emanzipation führte jedoch auch zu neuerlichem Leid und zerstörten Lebensläufen, wovon der biografische Comic einfühlsam und in ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Bildern erzählt.

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Diese Rezension wurde verfasst von mz.
Veröffentlicht am 01.04.2015