Linie 912

Autor*in
Reffert, Thilo
ISBN
978-3-95470-201-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Bohn, Maja
Seitenanzahl
108
Verlag
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Leipzig
Jahr
2018
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
13,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Linie 912 fährt von 7.30 Uhr bis 8.00 Uhr von der Poststraße bis zur Simonstraße. Langweilig? Naja, was dort im Bus passiert, erfahren wir aus zehn verschiedenen Perspektiven - und das ist so unterschiedlich, dass das Buch doch interessant ist.

Beurteilungstext

Wenn in einem Kinderbuch die gleiche Situation aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt wird, dann erinnert das unmittelbar an Anthony Browns "Stimmen im Park"; dort wird eine einfache Begegnung aus vier verschiedenen Perspektiven ("Stimmen") erzählt und bildlich dargestellt. Ein Meisterwerk des Entdeckens neuer Nuancen auf der Text- und Bildoberfläche, aber auch in Text- und Bildtiefe. So werden vielfältige Rezeptionsweisen möglich, die auf ganz unterschiedlicher Ebene ein Verstehen ermöglichen.

In dem vorliegenden Buch wird aus 10 Perspektiven die gleiche Busfahrt erzählt. Zusammengefasst könnte man die Handlung so darstellen: Die üblichen Fahrgäste sind im Bus: Drei Schüler*innen, ein Mann, der von der Nachtschicht kommt, eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, die zum Arzt ins Krankenhaus fahren, eine alte Frau, die zum Grab ihres Mannes möchte und natürlich der Busfahrer. Die Menschen steigen aus und ein, doch plötzlich läuft ein Hund vor den Bus, der Busfahrer muss scharf bremsen, weswegen die Geburtstagsmuffins von Leon durch den Bus purzeln. Die anderen Schüler*innen helfen, die Muffins wieder einzusammeln. Der Busfahrer ruft verschiedene Kinder nach vorne und für Leon hat er sogar eine Torte, die dieser als Ersatz für seine deformierten Muffins in der Schule verteilen kann.
Wer aufmerksam mitgezählt hat, hat in der Inhaltszusammenfassung schon 8 Personen wahrgenommen, aus deren Perspektive erzählt wird. Hinzu kommt die Perspektive des Hundes, der vor den Bus läuft sowie seines Frauchens. Interessant ist die Verflechtung der unterschiedlichen Sichtweisen, denn nicht alle Figuren nehmen alles wahr. So erfährt man beispielsweise erst auf S. 84, dass der Bus wegen eines Hundes plötzlich bremst. Und die drei Schüler*innen nehmen sich vor allem gegenseitig wahr. Insofern ist die Subjektivität der erzählten Perspektiven gelungen, sie ist ein wesentlicher Motor dafür, dass man alle Perspektiven lesen möchte.
Schade ist jedoch, dass sich die Perspektiven kaum sprachlich unterscheiden. Das liegt unter anderem daran, dass in der 3. Person erzählt wird und die Fokalisierung auf die jeweilige Perspektive nicht ganz dicht an der Person ist - die Erzählinstanz hat offensichtlich die Gesamterzählung im Blick. Ansonsten ist die Sprache für das Lesealter angemessen. Beispielsweise wird die Sicht von Uland, einem fünfjährigen Kita-Kind auf dem Weg zum Arzt, so deutlich: "Der Busfahrer spricht jetzt von Geduld. Das tun Mama und Papa gelegentlich auch. Uland fragt sich dann immer: Wenn die Geduld zu Ende ist, war es dann überhaupt Geduld?" (S. 49) Aus Nunos Sicht (einer der Schüler) erfahren wir Genaueres: "Der Busfahrer sagt: 'Ich habe Geduld, viel Geduld. Aber irgendwann ist sie zu Ende. Es sollte jetzt jemand aussteigen.'" (S. 37) Und aus Ansgars Sicht, der von der Nachtschicht kommt, ist es noch anders: "'Es sollte jetzt jemand aussteigen.' Ansgar traut seinen Ohren nicht. 'Was hat der Busfahrer gesagt?', fragt er in den Bus hinein. Und der Kurze mit dem Gipsarm wiederholt, was Ansgar schon gehört hat, aber nicht verstanden hat. [...] Die Tür steht ihm offen. Er kann aussteigen." (S. 75) Die gleiche Situation wird also immer wieder neu gedeutet und neu kontextualisiert. Das ist spannend und birgt viel Gesprächsstoff und Potential für Perspektivenübernahme aber auch das Nachvollziehen von Erzählhandlungen.

Doch leider hat das Buch Längen. Denn zehn Perspektiven sind zu viele und es braucht auch nicht alle, um die Gesamthandlung rekonstruieren zu können. Oder andersherum gesagt: letztlich können sich Lesende ja selbst weitere Perspektiven ausdenken und fehlende Informationen so ergänzen - denn spätestens ab dem 3. Kapitel läuft auch die Frage mit: Wie hat die Person xy diese Situation erlebt? Besonders bedauerlich ist, dass gerade zum Ende hin eher weniger relevante Personen im Zentrum stehen: So spielt das Erleben von Ida, einer alten Frau, die verschlafen hat und ihren verstorbenen Mann auf dem Friedhof besuchen will, für die Gesamthandlung keine Rolle, da sie nicht einmal in den Bus einsteigt. Und ob die Perspektive des Hundes so besonders wichtig ist, sei auch dahingestellt. Von daher hätte dem Buch eine Reduktion der Anzahl der Perspektiven gutgetan - vielleicht verbunden mit etwas individuelleren sprachlichen Ausgestaltungen.

Trotzdem wird „Linie 912“ für viele Kinder eine interessante Lektüre bilden und auch für den Deutschunterricht - vielleicht in Auszügen? - ein wertvolles Buch für literarische Lernprozesse sein können.

Christoph Jantzen

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Christoph Jantzen; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 26.03.2019

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