Kompass ohne Norden
- Autor*in
- Shusterman, Neal
- ISBN
- 978-3-446-26046-7
- Übersetzer*in
- Herzke, Ingo
- Ori. Sprache
- Englisch
- Illustrator*in
- Shusterman, Brendan
- Seitenanzahl
- 352
- Verlag
- Hanser
- Gattung
- Buch (gebunden)Erzählung/Roman
- Ort
- München
- Jahr
- 2018
- Lesealter
- 12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- –
- Preis
- 19,00 €
- Bewertung
Teaser
Zwei Dinge weißt du. Erstens: Du warst da. Zweitens: Du kannst nicht da gewesen sein.
Beurteilungstext
Caden Bosch könnte ein normales Leben als 15-jähriger Teenager führen: Freunde treffen, auf die Lehrer*innen schimpfen, das erste Mal verliebt sein. Aber stattdessen begibt sich Caden auf eine abenteuerliche Mission mitten auf dem Meer, die ihn zum tiefsten Punkt der Welt führen soll. Erbittert kämpft er gegen Seeungeheuer, trotzt dem Kapitän des Schiffes und schließt Freundschaften mit den ungewöhnlichen Crewmitgliedern. Das Abenteuer hat nur einen Haken: Es ist nicht real. Caden leidet an Schizophrenie, ist hin- und hergerissen zwischen der realen Welt und dem, was sein Verstand und seine Gedanken ihm vorspielen. Unaufhaltsam nähert er sich der großen Katastrophe, muss in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden und beginnt den Kampf seines Lebens, bei dem er gegen den härtesten Gegner antreten muss: sich selbst.
Schnell, fesselnd und schmerzlich faszinierend. In kurzen Kapiteln katapultiert Neal Shusterman seine Leser*innen mitten in die depressiven Wirren eines schizophrenen und bipolaren Verstandes. Dabei kreiert er zwei Welten: die reale Welt und die des fantastischen Abenteuers auf dem Ozean. Mit zunehmendem Fortschritt der Krankheit Cadens vermischen sich diese beiden Welten. Zuerst subtil und dann immer offensichtlicher finden sich Personen, Elemente und tiefgreifende sprachliche Bilder der „Traumwelt“ in Cadens Alltag wieder und verdeutlichen seinen schwindenden Bezug zur Realität. Die Ich-Erzählung wechselt dabei in Cadens schlimmsten Phasen der Krankheit zum erzählerischen Du, was zeigt, wie Caden sich selbst fremd wird, wie sein gespaltener Verstand nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden kann. Die rasanten Gedankenströme und lebendigen Bilder der zwei Welten lassen die Leser*innen dabei unruhig, ohnmächtig und in der bangen Hoffnung zurück, dass Caden es vielleicht doch schaffen könnte, seinem eigenen Gefängnis zu entfliehen. Ob ihm das gelingen wird, sein Kompass wieder auf Norden ausgerichtet wird, bleibt offen. Der Kapitän des Schiffes, Cadens personifizierte Krankheit, wird immer da sein: „Mir wird klar, dass er immer warten wird. Er wird nie weggehen.“ (Seite 336)
Die Leidensgeschichte Cadens wird durch Illustrationen von Brendan Shusterman gestützt: gespenstische Gestalten, verworrene Linien, Hilfeschreie auf Papier. Der Sohn des Autors litt wie Caden und hielt seine Gefühle und Gedanken in Skizzen und Zeichnungen fest, welche das Chaos eines gebrochenen Verstandes verdeutlichen und der erzählten Geschichte Tiefe und Authentizität verleihen, indem sie stellenweise noch mehr Fragen aufwerfen und die Verwirrung der Leser*innen verstärken. Dabei wirken die Illustrationen, die vor dem Buch und während der psychischen Tiefpunkte Brendan Shustermans entstanden, dezent und gleichzeitig kraftvoll. Die Kombination der Text- und Bildebene, der Angehörigen- und Betroffenenperspektive erzeugt so einen Strudel, dem man sich als Leser*in kaum mehr entziehen kann.
Atemloses Lesen, schmerzliches Bangen bis zum letzten Gedanken und doch verhaltene Hoffnung: Neal Shusterman gelingt ein sensibler, zutiefst berührender Einblick in das Tabuthema Schizophrenie. Mehr als sehr empfehlenswert!
Anneliese Feilcke