Kaugummi verklebt den Magen

Autor*in
Röckl, Christina
ISBN
978-3-942795-63-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Röckl, Christina
Seitenanzahl
52
Verlag
Kunstanstifter
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Mannheim
Jahr
2018
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
24,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht ein zweites Mal!“. Solche und andere Sprichwörter werden zur Abschreckung und Erziehung von Kindern verwendet, mit denen in diesem Buch in ironischer Weise reiner Tisch gemacht werden soll. Die erste Bilddoppelseite zeigt ein großes Gesicht, das einen Kaugummi verspeist und ab hier geht es los mit der Frage und der Suche nach der Wahrheit hinter, in und um „Weisheiten“ wie „Kaugummi verklebt den Magen“.

Beurteilungstext

Wer kennt das nicht? Die Eltern erzählen einem als Kind so mancherlei abstruse Weisheiten: Wenn du weiter so schielst, dann bleiben die Augen stehen und gehen nicht mehr zurück. Oder ganz klassisch: Wer zu lange Fernsehen schaut, der bekommt viereckige Augen.
Christina Röckl greift eben diese Lügen, Halbwahrheiten und erzieherische Maßnahmen sehr ironisch und scherzhaft in ihrem Buch „Kaugummi verklebt den Magen“ auf und serviert sie auf einem multimedial-inszenierten Tablett. Zunächst führt der Erzähler mit einer streng geheimen Ansprache, gerichtet an die kindlichen Leser/innen, in den Aufbau des Buches ein und erläutert die Absicht dessen. Die Lesenden werden von drei oberschlauen erwachsenen Akademikern in die Welt der Lügen und vermeintlich wahrer Fakten eingeführt. Dabei gestaltet sich der Ausflug in dieses „Wissensgebiet“ als eine Mischung aus Fernsehshow und Exkursion zu anderen fantastischen Experten, wie der „Heiligen Zunge“ und dem „Faxenforschungszentrum“. Die vermeintlich allwissenden Akademiker sind bildlich als sehr verrückt wirkende und leicht tierisch anmutende Gestalten dargestellt, die immer brandaktuell und blitzschnell über alles perfekt informieren können. Textuell wird sehr oft mit Wortspielen und beabsichtigten Verschreibungen gearbeitet, was das gesamte Buch spritzig, frisch und humorvoll macht. Christina Röckl versteht es durch scharfsinnige und humoristische Neologismen wie „Faxenforschungszentrum“ oder „Gucklotzi“ alles und jeden; sogar die bestehende Wissenschaft als Garant für Wahrheit und Faktizität, auf die Schippe zu nehmen. Dies verstärkt auch den Inhalt und die Aussageabsicht dieses Buches: Viele Dinge, die angebliche Alltagsweisheiten sind, stimmen einfach nicht. Sie verlieren zudem durch Christina Röckls ironische Darstellung und Aufarbeitung auch an ihrer angsteinflößenden Kraft. Die Bilder wirken leicht expressionistisch und weisen Züge des Fauvismus auf, was ihrer Aussageabsicht und ihrer Wirkung eine weitere abnormal wirkende Note verleiht und damit erneut eine spielerisch-künstlerische Andeutung auf die Problematik der Wahrheit und den Wahrheitsgehalt solcher Lebensweisheiten und Sprüche darstellt. Zudem ist die Aufmachung als Fernsehshow ein wunderbarer intermedialer Zugang, der zum Entdecken und Weiterdenken anregt und eine Anspielung auf Fiktion und Wahrheit, sowie Schein und Sein im multimedialen Zeitalter ist. Insgesamt kennzeichnen das Buch und dessen Bildgestaltung zudem eine expressive und konstruierte, schon fast comicartige, Bildwelt, die komplett irreal wirkt. Diese Aufmachung und der verkehrte Aussagengehalt, der an Buchtiteln wie „The Holy Book of Faxomania“ oder im Nachrichtenformat getarnte „Fake-News“ wie „Ganz verlieren wird man das Auge erst beim gedankenlosen Popeln“ deutlich wird, machen dieses Bilderbuch zu einem prädestinierten Buch zum Philosophieren mit Kindern, denn in diesem Buch werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Halbwahrheiten ironisch und reflexiv hinterfragt. Dabei gibt das Buch keine dogmatische Gegenwahrheit vor, sondern spielt einfach mit diesen Aussagen und Sprüchen. Dennoch stellt das Bilderbuch hohe Anforderungen an kindliche Leser/innen, da viele intertextuelle Bezüge zur Erkenntnistheorie eingearbeitet sind und wirkliche Fakten mit ironischen Halbwahrheiten stark vermischt werden. Außerdem muss die Ebene der Fernsehshow erkannt und die mitschwingende Absurdität einzelner Aussagen verarbeitet werden. Dies macht definitiv den Reiz aus, aber kann eventuell bis in die Gänze von Kindern im Alter von acht Jahren nicht vollständig identifiziert werden, aber in einem Unterrichtssetting, in dem zum Beispiel mittels des Heidelberger Modells als literarische Gesprächsform gearbeitet wird, kann diese Hürde überwunden werden. Letztlich ist es eben auch ein Ziel literarischen Lernens, die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses anzuerkennen und an einem anderen Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Ebenfalls herausfordernd ist die gesamte Schriftgestaltung und Schreibweise, die besonders zum Ende des Bilderbuches immer großformatiger, verzerrter und dekonstruktiv wird. Dies lädt aber zum Entdecken der Wörter ein. Die letzten vier Bilddoppelseiten sind perfekt, um nach weiteren Unwahrheiten und Lebensweisheiten zu suchen. Zugleich lässt sich auf bildlich-ästhetischer Ebene der Sinngehalt solcher Bilder in Bezug zu ihrer Aussageabsicht interpretieren. Diese Darstellung hat postmoderne Züge und weist damit auf die Konstruktion der Wirklichkeit und Wahrheit hin. Besonders das zunehmende Überlagern der Sprüche durch Farbpunkte, die man als Pixel deuten kann, hat insofern symbolischen Charakter, als es die Auflösung tradierten Wissens meint. „Kaugummi verklebt den Magen“ steckt voller Potenziale und verrückter Ideen. Besonders die unkonventionelle Art der Bildgestaltung und das absurd-ironische Aufbrechen von vermeintlich Selbstverständlichem macht dieses Buch so faszinierend. Es zeigt uns, dass es möglich ist, Dinge und Bestehendes anzuzweifeln und kritisch zu bleiben. Dieser kritisch-reflexive Blick macht das Buch wichtig in Zeiten von multimedialer Präsenz und Informationsflut. „Ohne Google gibt´s dich nicht“ … Auf dem hinteren Vorsatzpapier sind Bücher gezeichnet, die solch aberwitzige und problemhaltige Titel tragen. Auch hier wird noch Anlass gegeben, um nachzudenken, weiterzudenken und um zu einer kritischen Haltung zu verhelfen. Medienphilosophische und medienkritische Themen werden hier gestreift und können im Unterricht wunderbar als Gesprächskatalysator genutzt werden. „Kaugummi verklebt den Magen“ von Christina Röckl vereint ästhetisch-künstlerischen Anspruch mit sprachlicher Neologismenraffinesse. Dieses Bilderbuch weckt und befördert mit seinen Metaphern und Sprachspielen eine kritisch-reflexive Grundhaltung. Also: Achtung! Dieses Buch entfaltet eine wirklich gefährliche Sprengkraft bestehender Wirklichkeitsgefüge.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von KrAl.
Veröffentlicht am 08.03.2023

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