Kalter Hund

Autor*in
Lezzi, Eva
ISBN
978-3-95565-433-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
164
Verlag
Hentrich & Hentrich
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Berlin Leipzig
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Gülay ist fast 16, Deutsche und Türkin, hat in Berlin gerade mit Mühe den Mittleren Schulabschluss geschafft und liebt ihre Freiheit. Trotz fester Beziehung stürzt sie sich spontan in ein heißes Liebesabenteuer mit Hacke, merkt jedoch erst spät, dass dieser mit rassistischen Kumpels Umgang hat, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. In Istanbul will sie das Ganze aussitzen, wird aber als Zeugin nach Deutschland geladen, um gegen ihre große Liebe auszusagen. Wie soll sie sich entscheiden?

Beurteilungstext

In der Person der Ich-Erzählerin und Protagonistin Gülay Sancak dürften sich viele junge Frauen, aber auch junge Männer relativ problemlos wiederfinden, auch dann, wenn sich die eigenen Lebensumstände nicht annähernd so krass darstellen mögen. Die knapp 16-Jährige fühlt sich hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Wertmaßstäben; sie besitzt den deutschen und den türkischen Pass, weiß aber nicht, womit sie sich tatsächlich identifizieren soll. Ihre familiären Wurzeln sind türkisch, zuhause ist alles „haram“ (verboten), gerade auch für junge Frauen, die ständig vor zu engen und zu frühen Kontakten mit Männern gewarnt werden. Dabei fällt Gülay äußerlich aber keineswegs als türkisch auf: Sie hat rote Haare wie ihre Großmutter. Und in der Großstadt Berlin pulsiert das Leben: ein Leben, von dem Gülay („…ein Paradiesvogel, wild und frei.“ S.17) eben auch träumt. Dass sie, die sich eigentlich fest an den soliden Daniel gebunden fühlt, aus einem Augenblick heraus kopfüber in ein kurzes, unüberlegtes Techtelmechtel mit Sergej stürzt, lässt ihre erste Beziehung prompt platzen. Für sie selbst noch unverständlicher, aber wesentlich intensiver gerät das rein zufällige Treffen mit Hacke, das sie „echt aus den Latschen knallt“ und schon nach wenigen Stunden zu ihrem allerersten, immerhin geschützten Sex führt. Dabei, aber sogar noch stärker beim romantischen nächtlichen Tête-à-Tête auf einem Hochhausdach mit weitem Blick über die Stadt Berlin hat sie das Empfinden, dass dies das wahre Leben sein könnte. Vor lauter Schmetterlingen im Bauch realisiert sie aber gar nicht Hackes Kontakt zu rechtsradikal-rassistischen, sogar gewaltbereiten Kumpels. Aber genau solch ein Verhaltensmuster, wie es im Buch beschrieben wird, erscheint typisch: Antirassistische Sprüche werden unter Freunden oder guten Bekannten eher als flapsig oder witzig eingestuft, weil man sich deren Ernsthaftigkeit oft nicht frühzeitig bewusst macht und die Relevanz im Hinblick auf mögliche Folgetaten verkennt.
„Kalter Hund“ beschreibt das charakteristische Spannungsfeld angehender Erwachsener, vor allem solcher, die sich in einem multikulturellen Umfeld befinden, wie es heute nicht mehr vorwiegend in Großstädten, sondern auch auf dem flachen Land zu finden ist. Die eindrücklichen und emotionalen Schilderungen des Buches vermitteln sehr gut, dass es aus dem Durcheinander der Gefühle und (möglicher) Anforderungen an die eigene Person üblicherweise aber kaum simple Antworten oder Auswege gibt. Dies wird besonders deutlich, als sich Gülay entscheiden muss: einerseits für die (eigentlich unmögliche) Liebe zu Hacke sowie die Solidarität zu dessen Freunden, andererseits für ein rechtsstaatliches, gesetzeskonformes Verhalten, das grundsätzlich die Würde anderer Menschen – und eben auch von Ausländern – an vorderster Stelle sieht.
Interessanterweise bleibt Gülays genaue Entscheidung im Buch letztlich unklar; zumindest wird sie nicht explizit ausgesprochen, obwohl entsprechende Andeutungen einen einigermaßen deutlichen Schluss nahelegen. Es bietet sich daher bestens an, das Ergebnis, aber auch alles zuvor Geschehene, in einem Gruppengespräch unter Jugendlichen weiter auszudiskutieren. Mögliche Meinungsdifferenzen wären gewiss nicht auszuschließen.
Der im Buch erwähnte Unfalltod von Hackes jüngerem Bruder hat zwar Auswirkungen auf dessen Verhalten: Er will die familiäre Katastrophe durch Verschweigen möglichst verdrängen, um vor anderen als cool zu gelten und keine Gefühle nach außen zu zeigen. Für den Plot spielt dies jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Bedeutsamer ist die Thematisierung der inzwischen bereits lebensgefährlichen Magersucht von Gülays jüngerer Schwester. Dass sie diese Störung entwickelt hat, um dadurch die Aufmerksamkeit der Eltern zulasten Gülays zu beanspruchen, dürfte allerdings als ursächliche Erklärung (S. 88f) zu kurz greifen. Beide Themen wären jedoch ebenfalls gut für eine weitere Erörterung geeignet.
Passend zum Umfeld der Protagonistin, aber für viele LeserInnen vermutlich irritierend sind die verwendeten türkischen Begriffe, die sich nicht in jedem Fall durch den Kontext (oder per Wörterbuch) in ihrer genauen Übersetzung erschließen lassen. Eine Erklärung (z.B. als Fußnote oder Glossar) wäre hilfreich und angebracht.
Die Sprache des Romans ist weitestgehend unverschwurbelt direkt, bisweilen auch schnoddrig oder gar despektierlich, wirkt aber für eine knapp 16-Jährige durchaus authentisch und dürfte damit auch problemlos verständlich sein für jugendliche LeserInnen.
Die behandelte Problematik in „Kalter Hund“ ist ausgesprochen aktuell und sollte unter Jugendlichen wie auch unter Erwachsenen dringend intensiver diskutiert werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von RPGK.
Veröffentlicht am 06.06.2022