Irmina

Autor*in
Yelin, Barbara
ISBN
978-3-95640-006-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Yelin, Barbara
Seitenanzahl
288
Verlag
Reprodukt
Gattung
Comic
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
39,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die schrullige Protagonistin Irmina reist Mitte der 30er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie den dunkelhäutigen Howard von den Barbados kennen, dem sie in ihrer Freiheitsliebe verbunden fühlt. Durch den gewitzten und sensiblen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu ändern...

Beurteilungstext

Schon das Cover verweist auf die Janus-Gesichtigkeit des aktuellen Comic-Romans von Barbara Yelin: Der erste Teil der 288 Seiten umfassenden Graphic Novel gibt sich als innovative Liebesgeschichte: Die schrullige Protagonistin Irmina reist Mitte der 30er Jahre nach London, um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu beginnen. Dort lernt sie den dunkelhäutigen Howard von den Barbados kennen, dem sie in ihrer Freiheitsliebe verbunden fühlt. Durch den gewitzten und sensiblen Oxfordstudenten beginnt Irmina ihren Blick auf die Welt zu ändern... Doch findet ihre Beziehung ein jähes Ende als Irmina, bedrängt durch die politische Situation in Deutschland, nach Berlin zurückkehrt. Der zweite Teil des graphischen Romans beginnt: Im nationalsozialistischen Deutschland steht die dem Leser so sympathisch gewordene Irmina vor der Gretchenfrage aller Deutschen im Dritten Reich – und wird sie nicht zufriedenstellend beantworten können.

„Irmina“ ist eine differenzierte Erzählung um den Konflikt zwischen dem Anspruch moralischer Authentizität und dem Drang nach weltlichem Erfolg. Zugleich lebt sie von dem literarischen Kniff, dass eine dem Leser sympathisch „gemachte“ Figur mit Umständen konfrontiert wird, denen sie nicht gewachsen ist. Inspiriert durch den Dachbodenfund von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen ihrer Großmutter, erzählt Barbara Yelin in künstlerisch durchkomponierten Bildsequenzen einen Werdegang am Scheideweg, der exemplarisch für den persönlichen Konflikt und die gesellschaftliche Mitschuld durch Ignoranz, Vorteilsnahme, Überforderung und Angst vieler im Deutschland des Nationalsozialismus stehen kann.

Schon das Datum mit dem dieser umfangreiche graphische Roman beginnt, verheißt nichts Gutes: 1934. In Deutschland hat gerade die Herrschaft Hitlers begonnen. Die junge Protagonistin – die exemplarisch für die Generation der im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik geborenen stehen kann – ist überfordert, sie versteht die Bewegungen im politischen Weltgeschehen nicht. Sie fühlt sich weder zuständig noch verantwortlich, weiß nicht, was es eigentlich zu begreifen gibt. Vor allem interessiert sie persönliches: wie sie in Zukunft auf eigenen Füßen stehen soll und natürlich die Liebe. So trifft sie auf Howard, einen dunkelhäutigen Student von den Barbados...

Doch bleibt es bei Barbara Yelin nicht bei dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte in politisch unruhigen Zeiten. Die 1970 in München geborene Künstlerin hat sich in ihrem neuen Buch mehr vorgenommen: Sie erzählt die Geschichte Irminas bis zum prosaischen Ende. Denn als die elterlichen Zahlungen aus Deutschland ausbleiben und die junge Frau in England keine Anstellung findet, muss sie in ihre Heimat zurückkehren. Der Kontakt zu Howard bricht ab. Irmina landet in Berlin und findet – getrieben von existentieller Not – eine Anstellung im Reichskriegsministerium. Sie verliebt sich in Gregor, einen überzeugten Nazi. Beide heiraten und bekommen ein Kind - eine arische Kleinfamilie zum Vorzeigen. Das Regime verspricht ihnen den lang erhofften sozialen Aufstieg. Und Irmina? Sie fügt sich den Umständen.

In vielen kleinen Episoden und zahlreichen Details zeigt Barbara Yelin nun den „moralischen“ Verfall Irminas. Wie sie sehenden Auges in den Untergang läuft, wie sie sich unerbittlich und unempfindlich macht, und wie sie alles an sich verliert, was ihr – und uns Lesern - einmal liebenswert war. Kurz: Wie sie sich selbst belügt.
„Irmina“ belegt an einem authentischen und z.T. historisch verbürgten Exempel, die Selbstverleugnung im Namen einer vermeintlich gesicherten Zukunft. „Yelins Comic ist in dieser Hinsicht einzigartig, noch nie wurde so klarsichtig, eindringlich und zugleich einfühlsam das Schicksal einer Frau, einer Mitläuferin und -täterin im Nationalsozialismus gezeichnet“, schreibt die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Rundschau. Die Biographien der vom Tribunal der Geschichte gebrandmarkten Mitläufer und passiven Wasserträger des Dritten Reiches werden versteh- und nachvollziehbar gemacht. Denn sie waren wie wir: Unsicher, überfordert und enttäuscht vom Leben.

In einem abschließenden kurzen dritten Teil sehen wir Irmina als abgehalfterte Witwe in den achtziger Jahren im Vorstadtidyll der neuen BRD. Ihr Mann fiel im Krieg, ihr eigener Sohn ist ihr fremd und sie arbeitet im Sekretariat einer Schule. Doch eines Tages erreicht sie ein Brief ihrer Jugendliebe - und sie ahnt, was ihr irgendwann einmal verloren ging. Ängstlich bricht sie zu den Barbados auf.

Comic-historische Anleihen scheint Barbara Yelin nur bei den größten des Comics zu machen: Auf der Bildebene sind die Referenzen zu Will Eisner – dem Godfather des Comic – unverkennbar. Man könnte Barbara Yelin in diesem Roman geradezu eine deutsche „Eisnerin“ nennen. Sowohl die schraffierten Zeichnungen als auch die Kompositionen der Metapanels verweisen direkt auf die Großstadtgeschichten des Amerikaners. Das Ausblenden der Rahmung der Speechbubbles, das Spielen mit typographischen Varianten der Schriftarten und auch der Detailrealismus der gegenständlichen Hintergründe verstärken diesen Eindruck.

Abschließend bleibt nur noch der Schlusssatz für den Klappentext der zweiten Auflage – die ganz sicher kommen wird: Barbara Yelin gelingt mit „Irmina“ ein Kleinod der graphischen Literatur, welches in jeder Hinsicht höchstes Niveau erreicht: inhaltlich und erzählerisch, künstlerisch und poetisch.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von OWA.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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