In Berlin vielleicht

Autor*in
Beyerlein, Gabriele
ISBN
978-3-522-17698-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
316
Verlag
Thienemann
Gattung
Ort
Stuttgart
Jahr
2006
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Lene, seit 6 Jahren im Haushalt des Dorflehrers beschäftigt, reist mit 14 Jahren in das Berlin der Kaiserzeit. Der Lehrer kann sie nicht mehr bezahlen, in der Großstadt findet sie eine Stelle als Hausmädchen. Hoffnungslos ausgebeutet, kündigt sie und bekommt eine Traumstelle, wäre da nicht - alles kommt anders, als man es erwartet. Als sie von ihrem Freund schwanger wird, muss sie ihre Stelle verlassen, hat aber das Glück, eine Entbindungsanstalt zu finden und einen Ort für sich und ihr Kind.

Beurteilungstext

Gabriele Beyerlein schreibt eng an die Sicht des jungen Mädchens angelehnt: Es zeigt sich ein schwärmerisches junges Ding, das hart und selbstständig zu arbeiten gelernt hat, ohne das als besonders belastend zu finden. Die notwendige Zuneigung wird ihr von ihrer Mutter verwehrt, die als ledige Mutter auf unterschiedlichen Höfen arbeitend, hart und verschlossen geworden ist. Die Tochter Lene hat in dem Lehrerhaushalt eine Ersatzfamilie gefunden, wird von der Lehrersfrau und deren Kindern geliebt, sie wiederum ist pubertär in den Lehrer verliebt. So fällt sie aus allen Wolken, als sie erfährt, dass sie nach der Konfirmation nicht weiter beim Lehrer bleiben kann.
Sie sucht ihr Glück in Berlin, droht zwischen die Roste zu fallen und landet in der seinerzeit typischen Rolle des ausgenutzten Mädchens vom Lande als Hausmädchen bei einem Polizeioffizier.
Als sie dies erkennt und kündigt, findet sie eine Traumstelle bei einem adligen Oberst: Sie bekommt genug zu essen, darf frei wirtschaften und hat mit sympathischen und freundlichen Menschen zu tun. Prompt verliebt sie sich in den Burschen des Offiziers und wird wieder zutiefst enttäuscht: die beiden sind ein homosexuelles Paar. Beide Männer aber haben eine ungeheure Angst, entdeckt zu werden. Ihre Scheinidylle ist dann mit Ausbruch der Eulenburg-Affäre zu Ende. Zudem ist Lene schwanger und ihr Freund - selbst völlig mittellos, aber ein Blender - will nichts mehr von ihr wissen.
Der Offizier muss heiraten, um seine Ehre zu retten, der Bursche wird nach Ostpreußen versetzt und Lene findet eine Entbindungsanstalt der Charité, in der sie - ganz der Scham der Jahrhundertwende verhaftet, zu der man zwar Ausschnitt zeigen darf, nicht aber die Knöchel - sich von den Medizinstudenten anfassen lassen muss, sich vor ihnen ausziehen, sich zeigen. Aber sie bringt ihr Kind gesund zur Welt und findet einen Bäckerhaushalt, in dem sie beide unterkommen und sich eine Freundschaft zwischen der Bäckersfrau und Lene entwickelt. Zur Taufe des Kindes kommt sogar der Bursche, zu dem sie ein geschwisterliches Verhältnis entwickelt hat.
Dieser Berlin-Roman ist eine Geschichte des Kaiserreiches von unten - und Berlin steht hier stellvertretend für alle Städte, in die die jungen Mädchen vom Lande zogen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und verdient macht sich Gabriele Beyerlein um die Nähe, die sie zu diesem Mädchen aufbaut: Ein starkes Mädchen, das immer wieder an der menschenfeindlichen Situation zu zerbrechen droht, dennoch einen Ausweg findet und sich durchsetzt.
Vielerlei wird geschildert, was unsere Kinder heute nicht mehr kennen, unbedingt aber kennen lernen sollten: Die Arbeitsbedingungen, die Herrschaftsverhältnisse, die doppelte Moral der kaiserlichen Gesellschaft, der Kampf gegen Vorurteile, der beginnende Klassenkampf der Jahrhundertwende. Aber auch etwas von der Geschichte der Sozialdemokraten, den Sozialistengesetzen, den Verfolgungen und Ängsten der Sozialisten der Jahrhundertwende liest man hier, unaufdringlich und eher nebenbei, dadurch aber, und weil es personalisiert ist, bleibt es eher haften als reine Sachinformationen.
Und lesen lässt es sich wie ein Krimi, ein Abenteuerroman, weil die Lene ein schlüssiger Charakter ist, ein Mädchen, das erst noch sucht, träumt, schwärmt, leidet, hungert und arbeitet, zunehmend aber wächst und ihren Platz in der Gesellschaft findet. Nichts ist illusionär, nichts verklärend. Beyerlein bleibt mit beiden Füßen auf dem Boden der Geschichte - und vergisst auch nicht die alten Hausrezepte zur Pflege von Teppichen und Mobiliar zu erwähnen.
Zu einer Geschichte für Jugendliche gehört auch ein happy-end. Das gibt es hier nur in eingeschränktem Maße: Für die Menschen von fast ganz unten war das nur scheinbar erreichbar. Wichtig aber ist es, dass in diesem Buch die drohenden Abgründe auch für den Leser des 21. Jahhunderts spürbar und klar erkennbar werden. Lene und ihren Kompagnons droht der Absturz permanent - auch nach dem Schluss des Romans noch - aber es ist auch erkennbar, dass Glück und persönliche Stärke sie davor bewahren. Weder das eine noch das andere alleine hätte das sonst bewirken können.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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