Im Spinnennetz

Autor*in
Kordon, Klaus
ISBN
978-3-407-81071-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
557
Verlag
Gattung
Ort
Weinheim
Jahr
2010
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
19,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

1890 sitzt der Großvater Davids im Gefängnis, weil er gegen die Sozialistengesetze verstoßen hat. In der Familie stehen alle zu ihm, aber bis er entlassen wird, stirbt die Großmutter. David scheitert am Gymnasium, an der Borniertheit der Lehrer, an seiner Haltung für Demokratie. Er lernt Anna kennen, eine Berliner Göre, die kein Blatt vor den Mund nimmt - der Weg zu ihrer Liebe ist sehr holprig, und beide geben nicht gerne nach. Erst als der Großvater frei kommt wird, glätten sich die Wege.

Beurteilungstext

Kordon beschreibt das Jahr 1890 in Berlin, sehr nah, sehr konkret, so muss Geschichtsunterricht aussehen. Erst in ihren Auswirkungen erkennt der junge Leser, was repressive Gesetze für Folgen haben können. Ich finde den Rundumschlag durch das Berlin dieses Jahres hochinteressant - ob aber Jugendliche die ersten 130 Seiten ebenso goutieren werden, wage ich zu bezweifeln. Andererseits ist die folgende Handlung nur vor diesem Hintergrund erfassbar - da kann man nur hoffen, dass der junge Leser so etwas wie quer lesen lernt. Das Querlesen ist ohnehin ein erstrebenswertes Ziel, weil man nur so die Stellen wiederfinden kann, die man dann wiederum braucht, um alles verstehen zu können.
Denn wenn die eigentliche Handlung los geht, wird es - wie immer bei Kordon - spannend und persönlich, es gibt nur wenige Schriftsteller mit solch einer empathischen Erzählhaltung. Er blättert uns in allen Aspekten das Leben und die (fehlenden) Chancen des Prekariats vor - damals hieß es noch Proletariat. Und wirklich proletarisch tritt die Freundin Davids, die Anna, auf. Mit urberliner Witz ausgezeichnet versteht sie es sowohl, ernsthafter Diskussion auszuweichen wie auch über Schwächen, oder was sie als Schwächen ansieht, hinwegzuspielen. Es bedarf dann schon eines Davids und seiner Familie, um hinter den Witz und die Aggressivität schauen zu können. So gibt es herrliche Dialoge, wundervolle Szenen, die geradezu provozieren, nachgespielt zu werden.
Gleichzeitig werden die Familienmitglieder - allesamt standfeste Sozialdemokraten (wohlgemerkt: in der Zeit der Sozialistengesetze!) - in all ihrer Unterschiedlichkeit sympathisch beschrieben, sie halten zusammen und David wird bei einer heimlichen Plakatklebeaktion, die ein Onkel initiierte, von der Polizei verfolgt und entkommt nur knapp. Hier hilft ein junger Polizist, einer, der nicht bedingungslos kaisertreu ist, und ein jüdischer Schuhmacher, was gleich ein Schlaglicht auf das Scheunenviertel seinerzeit wirft.
Der Großvater war ein handfester Zimmermann und als David von der Schule fliegt, tritt er in seine Fußstapfen und lernt in dem Betrieb des Großvaters. Die Schule spielt eine große Rolle. David ist der einzige Proletarier in seiner Klasse und einigen Lehrern ist das einer zuviel. Jegliches Maß an Objektivität, an dem, was wir heute unter Förderung von Schülern oder Begabung verstehen, geht ihnen ab. Welches Ausmaß die Willkür und Vorverurteilung einnimmt, kann man kaum besser beschreiben, als es hier Kordon mit seiner Identifikationsfigur David gelingt. Nach der Plakatklebeaktion wird David verhaftet, muss aber freigelassen werden, weil die Familienbande ihm Alibi genug verschaffen. Das hindert die Schule nicht daran, ihn zu entlassen. Heute ist das völlig unverständlich, aber derlei vorauseilenden Gehorsam gegenüber Kaiser und Staat gab ja wirklich. Geschichtsunterricht pur.
Die Zimmermannslehre Davids beleuchtet den Bauboom des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als überall gebaut, aber auch gespart wurde, so dass alte Handwerkertraditionen über Bord gingen. Neue Bauten mussten immer effizienter erstellt werden - diese Tradition setzt sich bis heute fort.
Die Freundin Anna kommt aus einer Familie, die nun so unbegreiflich ärmlich wohnt, dass es kaum glaubhaft ist, dass derlei Dritte-Welt-Verhältnisse mitten in unserer Welt noch vor hundert Jahren bestanden. (Man muss schon staunen, dass damals in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, aber ohne Klo, das auf dem Hof oder im Treppenhaus war, im Schnitt bis zu zehn Personen lebten!) Dabei sind die Familienstrukturen von Annas Familie auch Kindern des 21. Jahrhunderts nicht ganz unbekannt: Der Vater sitzt meist volltrunken im Sessel, die Mutter rackert ohne Unterlass, die Kinder sind weitgehend auf sich selbst angewiesen - was in Annas Familie aber heißt, dass sie Kinderarbeit verrichten müssen. Der Vater ist nicht nur ein Ekelpaket par excellence, er versucht auch noch die Tochter zu vergewaltigen, wird im letzten Augenblick von einem ansonsten unsympathischen Verehrer Annas die Treppe hinunter geworfen. Dass sich Anna dann David anvertraut, ist schon ungewöhnlich für sie, mit Anderen kann sie nicht darüber reden. Aber David bringt sie dazu, jetzt doch von ihren Eltern weg zu ziehen und vermittelt ihr Job und Unterkunft über seine Familie. Staatliche Hilfe ist unbekannt, erst die SPD-Genossen organisieren schließlich eine Unterstützung. Anna ist die Älteste und beginnt, sich in einer anderen Welt zu bewegen. Dass sie trotz Davids Hilfe dabei erhebliche Schwierigkeiten hat, versteht sich von selbst. Selbstständig zu werden heißt eben nicht, sich in die Abhängigkeit eines andern, wenn auch geliebten Menschen zu begeben. Aber notwendig ist es, die Hilfe Anderer annehmen zu lernen, auch wenn dabei noch mancher Fehler begangen wird, der zumindest Anna so peinlich ist, dass sie immer wieder nahe daran ist, aufzugeben.
Aber die Liebe siegt.
Und nicht zuletzt ist das SPINNENNETZ (das die Allgegenwart von Polizei und Staat benennt) ein schöner Erste-Liebe-Roman, der all die pubertären Probleme, Stürme und Erkenntnisse aufzeigt, die eine solche Liebe mit sich bringt.

Im Nachwort beschreibt Kordon die Rolle der SPD in der Zeit von 1900 und den Beginn der politischen Emanzipation der Frauen. Im Anhang werden Daten (48er Barrikadenkämpfe) und Personen (Wilhelm I. über Bebel bis Heinrich Mann), die im Text auftauchen, mit wenigen Sätzen treffend charakterisiert.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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