Ich bin Fagin. Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist

Autor*in
Eisner, Will
ISBN
978-3-7704-5521-8
Übersetzer*in
Monte, Axel
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
139
Verlag
ehapa
Gattung
Comic
Ort
Köln
Jahr
2015
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
19,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

In seiner vielschichtigen Erzählung über die Figur Fagin aus Charles Dickens OLIVER TWIST geht Eisner dem Problem ethnischer Klischees in der Literatur auf den Grund. Ohne selbstgerecht sein zu wollen, setzt er sich in dieser Graphic Novel literaturkritisch mit einem Irrweg von Charles Dickens und der viktorianischen Literatur auseinander.

Beurteilungstext

Charles Dickens Roman OLIVER TWIST gilt als ein bemerkenswertes soziografisches Sittengemälde des viktorianischen Englands und gehört längst zum Kanon der bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Dabei enthält es allerdings ein Element, das bereits mit Erscheinen des Romans Mitte des 19. Jahrhunderts für kontroverse Diskussionen sorgte und für das sich der Autor mehr als einmal zu rechtfertigen gezwungen sah. Gemeint ist die Figur des Fagin, ein jüdischer Hehler, der eine kleine Armee minderjähriger Taschendiebe und Trickbetrüger befehligt und auch Oliver Twist zum Stehlen nötigt. Dessen Charakter spiegelt die zur damaligen Zeit vorherrschenden antisemitischen Stereotypen und Klischees auf so üble Weise wider, dass Dickens, der sich selbst von jeglichem Antisemitismus immer aufs Äußerste distanzierte, nach zahlreichen kritischen Einwänden die Charakterisierung der Figur in späteren Ausgaben abmildern musste.
Will Eisner, der bekannte Comic-Autor und Theoretiker der grafischen Literatur, hat sich Zeit seines Schaffens und Wirkens mit der Bedeutung des Klischees für das Erzählen im Comic beschäftigt. Einerseits ist ihm zufolge die (Stereo-)Typisierung zwar ein unvermeidliches Mittel der Figurendarstellung im Comic, andererseits ist sie aber auch immer problematisch, da sich darüber soziale, ethnische und religiöse Klischees in diffamierender Absicht transportieren ließen. In seiner bereits 2003 erschienenen Graphic Novel FAGIN THE JEW, die nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt (ICH BIN FAGIN), setzt er sein theoretisches Wissen zur Comic-Narrativik ein, um eine Literaturkritik der besonderen Art zu betreiben und die Gestaltwerdung eines der berühmtesten Juden in der Literaturgeschichte zu dekonstruieren.
Dazu erzählt er, eingebettet in einen Dialog Fagins mit Charles Dickens, die fiktive (aber historisch durchaus authentische) Lebensgeschichte des Ersteren und verbindet sie mit dem Schicksal mitteleuropäischer Juden Anfang des 19. Jahrhunderts: Demnach wurden Moses Fagins Eltern im Zuge antijüdischer Pogrome aus Böhmen vertrieben und flohen nach London. Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters schlägt er sich mit Mühe und Not auf den Straßen durch, gerät mit dem Gesetz in Konflikt und wird zu Strafarbeit und Verbannung verurteilt. Nach zehn Jahren kehrt er, vorzeitig gealtert und körperlich ruiniert, jedoch mit unbändigem (Über-)Lebenswillen ausgestattet, nach London zurück. Der restliche Werdegang ist aus OLIVER TWIST bekannt, wird hier allerdings nochmals aus der Perspektive Fagins erzählt.
Anders als bei Dickens wird die Entwicklung der Figur Fagin durch Eisner in einen historischen Kontext gestellt, sprich der sozialen Diskriminierung (aschkenasischer) Juden im viktorianischen London, und zudem mit menschlichen Zügen versehen. Mit Moses erhält er nun auch einen Vornamen. Die visuelle Darstellung der Figur unterscheidet sich krass von den Illustrationen der historischen Ausgabe des OLIVER TWIST, die den antisemitischen Stereotypen des Textes adäquate Bilder zur Seite stellte, in denen Fagin mit Gaunervisage und Hakennase ausgestattet die jüdische Verderbtheit schlechthin personifizierte. Die Zeichnungen Eisners lösen sich selbstverständlich von solchen ethnisch-rassischen Zuschreibungen, so dass Fagin als ein durchschnittlicher Mitteleuropäer dargestellt wird, wenn auch vom Leben stark gezeichnet und äußerst heruntergekommen.
Den Höhepunkt des Buches bildet der Schluss, wenn Fagin seinem Schöpfer Dickens gegenüber tritt, um ihn für die vorurteilsbeladene und projektive Ausgestaltung seiner literarischen Figur zur Rechenschaft zu ziehen. An dieser Stelle zeigt sich der Comic-Autor Eisner auch als absoluter Experte in Fragen der metaphorischen Konstruktion sozialer Klischees, indem er auf gerade einmal drei Seiten aufzeigt, wie diese in Wort und Bild funktioniert: als generalisierende Synekdoche (Pars pro toto), in der ein Mensch mit samt seinen Eigenschaften mit einer bestimmten sozialen Gruppe stillschweigend – und für den Leser/Betrachter oft auch unbewusst – identifiziert wird. In einem Nachwort des Buches setzt sich der Autor mit dem Phänomen der antisemitischen Karikatur des 19. Jh. sowie – ganz selbstkritisch – mit rassistisch konnotierten Figurendarstellungen in Eisners Comics selbst auseinander. Sehr empfehlenswert und gut zu gebrauchen als Sekundärliteratur zu Dickens Roman im Deutschunterricht sowie in der politischen Bildung.

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Diese Rezension wurde verfasst von mz; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 25.02.2016