Hass und Versöhnung

Autor*in
Engelmann, Reiner
ISBN
978-3-570-31372-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
269
Verlag
Gattung
BiografieTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2021
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
10,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Ein Gespräch kann gelingen, Verständnis erzeugt werden. Beides ist bei unterschiedlichen Weltbildern nicht selbstverständlich. Wenn es sich auch noch um unterschiedliche Erfahrungen verschiedener Generationen handelt, ist es ungewöhnlich, wenn es gelingt. Strukturen in Leben und Aufwachsen der Menschen lassen sich vergleichen, wenn man auf die Einschnitte schaut, die sie als Spuren in den Biografien hinterlassen. Offenbar selbst dann, wenn die objektiven Bedrohungen kaum zu verglichen sind.

Beurteilungstext

Reiner Engelmann ist es gelungen, zu solchen Gesprächen eine Holocaust-Überlebende und einen Ex-Neonazi zusammenzubringen. Er beschäftigt sich u.a. in seiner pädagogischen Arbeit um Leseförderung, Kinder- und Menschenrechtsbildung, sowie Gewaltprävention. Ihn treibt die zunehmende rechtsextreme Gewalt um und die Tatsache, dass rechtspopulistische Gesinnung bereits im Bundestag, also in der Mitte unserer Gesellschaft, vertreten ist. Es gibt einen Nährboden, auf den er hinweist, damit keine weitere Ausbreitung stattfindet. Er setzt ein Motto vor die Gespräche: „……. .Hass wird gelernt. Und wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben. …“(Nelson Mandela)
Die Protagonisten könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihre Gespräche finden an mehreren Treffen statt.
Beeindruckend von Anfang an ist die gegenseitige Achtung, die sich die gegenübersitzenden Personen entgegenbringen.
Hilfreich ist es für Anne Schöps (Pseudonym der ersten Protagonistin), dass es Emil Landmann (Pseudonym des zweiten Protagonisten) nach eigenen schweren Straftaten, Verurteilung und Inhaftierung gelungen ist, sich auf eine Therapie einzulassen. Er hat sein Weltbild überdacht und hat über die Gründe seiner früheren Haltung reflektieren können.
Offenbar gibt es nun sogar einen Wunsch, etwas mehr über die Verfolgungen im Dritten Reich zu erfahren. Er ist bereit, zuzuhören und ehrlich Auskunft zu geben.
Anne Schöps hat den Holocaust überlebt, aber Eltern und Angehörige verloren. Sie ist bereit, zuzuhören und zu verstehen, wie der Hass auf Juden heute wieder geschürt wird und Mitläufer rekrutiert werden können. Sie will wissen, welchen Hintergrund heutige Ausschreitungen haben.
Dazu muss sie erneut ihre Geschichte der Ausgrenzung, der Verfolgung, der sich wiederholten Flucht, der Verstecke erzählen und sich einem jungen Mann öffnen, der noch vor kurzer Zeit selbst zu rechten Gewalttaten bereit war.
Ihre Haltung beeindruckt vor allem. Indem sie es zulässt, die – aus Lesersicht - weniger bedeutenden Brüche in der Biografie von Emil mit ihren eigenen existentiellen Bedrohungen auf eine Ebene zu stellen, können LeserInnen es ihr nur gleichtun. Emil ist als Subjekt ebenso ernst zu nehmen, wie Anne selbst. Damit gelingt eine Empathie für die Nöte des Ersteren, was sich von außen zunächst eher als unangemessen anfühlt.
Engelmann hat die Gespräche als kurze Gegenüberstellungen inszeniert. Beide haben sich vorbereitet. Es wird wechselseitig erzählt, manchmal geschwiegen oder nachgefragt. Manchmal gelingt das weitere Reden während eines Spaziergangs.
Emil, der in seinem bisherigen Leben eher behütet aufwächst, muss - in einer für ihn einschneidenden Phase - mit den Eltern in eine andere Stadt umziehen. Das bedeutet für ihn: neue Schule, neues Lernen, Verlust der Freunde. Er wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Eltern kommunizieren ihre Gründe nicht. Sein objektiv auch bisher gutes Lebensumfeld zu Hause bleibt äußerlich bestehen. Daher verstehen die Eltern seine Abwehr auch nicht. Er gerät ins Abseits, versagt sich jeder Kommunikation, muss eine Klasse wiederholen und ist lange Zeit ein Außenseiter.
Dies ändert sich, als er einen einzigen Freund gewinnt, der ihn zielsicher in die rechte Szene hineinzieht. Andere Freunde kommen hinzu, so meint er. Er genießt die laute Musik, die rechten Texte fallen ihm zunächst weniger auf. Er führt mehr und mehr ein Doppelleben.
Das, was seinen Zusammenhang zu dieser Szene belegen könnte, bleibt seinen Eltern fremd. Er lässt sie weder ins Zimmer, noch spricht er von den heimliche Treffen.
Über Musik, ihre Texte und Propagandamaterial von anderen Rechtsradikalen eignet er sich die Werte dieser Gruppierung an. Er beteiligt sich an regionalen Aktionen sowie an überregionalen Treffen. Da er sich nur einseitig informiert, fühlt er sich als Deutscher in seinem Land bedroht. Dies eskaliert, als ein Wohnheim brennt und er von der Polizei als Täter erkannt wird.
Die Eltern müssen die Täterschaft mit dem Schuldspruch anerkennen, auch wenn sie es nicht begreifen und juristisch alle Mittel zum Freispruch ausgeschöpft haben. Sie alle waren sicher, dass es keine harte Bestrafung werde geben können. Er kommt in Haft.
Eine begleitende Therapie lehnt er ab. Er fühlt sich mit seinem Denken im Recht. Dem Therapeuten gelingt es, ihn zur selbständigen Aufarbeitung zu bewegen, ihm Perspektiven zu eröffnen, die er nun selber zu entscheiden hat.
Er will sich mit den Erfahrungen von Anne beschäftigen. Diese zieht Verbindungen zwischen z.B. seiner subjektiv empfundenen Elternlosigkeit mit ihrem Erleben, als sie allein bei Fremden versteckt wurde. Sie vergleicht eigene Kindheitserlebnisse, sowohl fröhliche, als auch bittere, mit dem inneren Erleben von Emil. Sie bewertet nicht, sie stellt fest und nimmt seine Empfindungen ernst. Für Kinder hatte ja beides seine Schrecken.
Dadurch, dass Engelmann den jeweiligen Fokus abschnittweise in kurzen Sequenzen aufschreibt, bleibt Lesern die Möglichkeit, sich selbst auf diese Fokussierung einzulassen. Sie wird nachvollziehbar, auch wenn im Hintergrund die Überlegung bleibt, dass sich die Schrecken eigentlich nicht vergleichen lassen. Engelmann hat die Gespräche - laut Prolog - ansonsten wenig bearbeitet.
Er ist klug vorgegangen, eine solche Struktur aufzubauen . Die Gesprächsführung verläuft ruhig, reflexiv und sogar mit Respekt. Anne mag es gelungen sein, dass die Aufarbeitung der rechtsradikalen Haltung weiter geschieht, dass ein Zugang zu den Eltern gelingt und auch die theoretische Auseinandersetzung mit populistischen Strategien weitergeführt wird. Inzwischen ist Emil bereit, sich mit historischen Fakten zu befassen.
Wenn dies auch LeserInnen motivieren wird, wäre das ein großer Erfolg.
Engelmann hat das Verständnis für jugendliche Sinnsuche mit seinem Buch beeindruckend spürbar gemacht.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 08.02.2022

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