Großer Wolf und kleiner Wolf

Schlagwörter

• Freundschaft
• Tiere

Teaser

Ein großer Wolf, ein kleiner Wolf und ein Blatt an einem Baum sind die Akteure dieser Geschichte. Der kleine Wolf möchte das schöne Blatt haben, aber der große Wolf vertröstet ihn immer. Irgendwann wird es schon selbst vom Baum fallen. Was stattdessen passiert und wie am Ende doch noch alle zufrieden werden, erzählt diese schöne Geschichte.

Beurteilungstext

An einem Baum wächst ein wunderschönes Blatt. Der kleine Wolf möchte es haben. Zuerst, um es zu essen. Im Sommer, um sich darin zu spiegeln. Im Herbst, um es zu berühren. Doch der große Wolf vertröstet den kleinen Wolf. "Warte, bis das Blatt von selbst herunterfällt." Das passiert aber nicht und noch im Winter hängt das Blatt an seinem Zweig, ganz hoch oben im Baum. Mittlerweile fragt der kleinen Wolf nicht mehr. Doch plötzlich steht der große Wolf auf und klettert auf den Baum. Er riskiert Kopf und Kragen, weil es hoch oben kaum mehr Äste gibt, die ihn tragen können. Und als er das Blatt endlich erreicht, zerstäubt es ihm zwischen den Fingern. Doch die tausend kleinen Teilchen, zu denen das Blatt nun geworden ist, fallen auf den kleinen Wolf. Der kann das Blatt nun schmecken, sehen und spüren. Alle Wünsche erfüllen sich nachträglich, weil das Blatt seine Wunderkraft nicht verloren hat. Vielmehr ist es nun unendlich mehr als am Anfang, weil es alle Reize, die es über die Zeit entwickelt hat, gespeichert zu haben scheint. Am Schluss zittert der kleine Wolf vor Glück. "Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen", stellt er fest. Ja, das ist es wirklich wert gewesen.
Bis auf diese letzten Sätze, wird die Geschichte der beiden Wölfe und ihres Blattes ganz ohne Wertungen erzählt. Immer wieder fragt sich der Leser, wie die Geschichte wohl weitergehen wird. Zu unklar erscheinen die Entwicklungen. Was ist mit den Wünschen des kleinen Wolfes? Warum erfüllt sie der große Wolf nicht? Das Hinhalten des kleinen Wolfes erscheint zuerst so herzlos, weil der große Wolf das Bedürfnis des kleinen Wolfes nicht zu achten scheint. Doch dann, als es scheinbar schon zu spät ist, macht er sich doch noch auf den Weg. Und gerade jetzt wird deutlich, wie gut es war, zu warten. Denn auch wenn das Blatt nun nicht mehr ansehnlich aussieht, so ist es doch reif geworden. Es hat seine Entwicklungen in sich gespeichert, und es offenbart sein Potenzial, als die Umwelt ganz trist und eintönig erscheint. So erfüllt das Blatt schließlich doch noch die Wünsche des kleinen Wolfes. Es wird zur geballten Glückserfahrung.
Nadine Brun-Cosmes Geschichte lässt viele Freiräume für eigene Deutungen und Fantasien. Sie erzählt uneindeutig, und fordert ihre Leser, die sich immer wieder neu positionieren müssen, aufs Äußerste heraus. Diese Tendenz unterstützen auch die unspezifischen Bilder Olivier Tallecs. Die Verbindung unterschiedlicher Maltechniken und die teils verzerrten Proportionen der Protagonisten erzeugen - in Verbindung mit dem Text - eine eigenartige und geheimnisvolle Stimmung. So ist dieses fantastische Bilderbuch über die Zeit, den richtigen Zeitpunkt und das Glück - genau wie das Blatt selbst - ganz schwer zu fassen.