Gretchen

Autor*in
Berger, Ruth
ISBN
978-3-463-40513-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
461
Verlag
KindlerRowohlt
Gattung
Ort
Reinbek
Jahr
2007
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
19,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein Roman über Susann Brandt, das “historische Gretchen”

Beurteilungstext

In den Mittelpunkt ihres Romans stellt sie eine junge Magd in Frankfurt, Susann, die später als Goethes Gretchen Unsterblichkeit erringen sollte. Susann/Gretchen - ein Frankfurter Kriminalfall, bei dessen Urteilsvollstreckung Goethe - blutlüstern im Roman - Zeuge wurde und die Idee für seine Gretchen-Episode im Faust erhielt, an dem er gerade arbeitete.
Bergers Sprache ist prall, deftig, direkt und zugleich gekünstelt vornehm und schwülstig genug, um damit Milieu und Stimmung der Gesellschaft perfekt einzufangen. Dabei scheut sie auch vor der breiten Darstellung unerquicklicher Szenen nicht zurück, schwelgt bisweilen im erschreckend ekligen Detail, wie um den Leser genüsslich zu schockieren; so etwa bei der Obduktion des Säuglings, die sich über mehrere Seiten erstreckt oder bei der Hinrichtung Susanns.
Zwei Zeitebenen verflechten sich im Roman, zwei aufeinander folgende Jahre: die Zeit des Fehltritts samt der nicht eingestandenen Schwangerschaft bis zur Geburt, und die Zeit nach der Anzeige Susanns durch die Schwester. Der eine Teil spielt im Milieu des Wirts- und Gasthauses, der andere unter Ärzten und Advokaten, bis sich beide Teile nach der Verhaftung Susanns treffen und vereinen.
"Gretchen" ist die Geschichte des bedauernswerten Mädchens Susann, die von einem draufgängerischen Gast geschwängert wird. Ein eindrucksvolles Bild, das die Autorin zeichnet, ein Bild vom Leben der Frauen ohne Besitz, aus unterer Gesellschaftsschicht stammend, ausgebeutet, rechtlos, ohne Zukunft. Berger versteht zu erzählen, nimmt dabei immer die Sicht und Erzählweise (und Moral) dessen an, den sie schildert, naiv-verzweifelnd, gelangweilt-blasiert, arrogant-verlogen.
Der Fall Susann ereignet sich in Frankfurt, als dort ein reicher Nichtsnutz und Draufgänger lebt, der vom väterlichen vermögen zehrt und profitiert: Wolfgang, Sohn des Geheimrats Goethe, zum Kreis des Jean de Bary gehörend, der Susann schwängerte. Ruth Berger zeigt Goethe, damals noch kein genialer dichter und Denker, als den, der er vielleicht wirklich war: ein skrupelloser, oberflächlicher, in sich selbst verliebter Gockel und Herzensbrecher, nicht besser in seiner Beziehung zu Friederike Brion als Jean de Bary zu Susann. Es sind nur wenige Passagen, die sie Goethe in seiner Rolle als Dichter widmet, und fast immer im Blick auf seine Verarbeitung de Kindsmordtragödie.
In weiten Teilen, auch in denen, wo Advokat und Ärzte im Mittelpunkt stehen - mittelmäßige Gestalten ohne Rückgrat -, zeigt sich deutlich die erzählerische Freude Bergers an der Ausgestaltung dieser Mittelmäßigkeit, der schäbigen weichen Charaktere, der Scheinheiligkeit und doppelbödigen Moral der Zeit. Zuweilen wirkt es fast, als wenn sie Rache nimmt am Geschlecht Mann. Dieser Endruck verstärkt sich in ihrer Nachrede über Goethe und die anderen wichtigen Personen des Romans; hier trieft der Text fast vor Hohn. Es ist, als wolle sie Goethe entlarven, vom Sockel stoßen, entblößen - und weitgehend deshalb, weil er das Pech hatte, als Mann geboren zu sein.
Ein starker Roman, für starke Leer mit noch stärkeren Nerven - ab 18 Jahren.

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Diese Rezension wurde verfasst von avn.
Veröffentlicht am 01.01.2010