El Taubinio

Autor*in
Bell, Cece
ISBN
978-3-7432-0660-1
Übersetzer*in
Fricke, Harriet
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Bell, Cece
Seitenanzahl
248
Verlag
Loewe
Gattung
Comic
Ort
-
Jahr
2022
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Büchereididaktisches MaterialFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Mit „El Deafo“, ihrer gut 250 Seiten langen graphic novel über die eigene Kindheit als höchstgradig schwerhörigers Kind gelang der US-amerikanischen Kinderbuchillustratorin Cece Bell ein Überraschungserfolg. Mittlerweile gibt es eine eigene Miniserie auf Apple TV; im August 2022 veröffentlichte Loewe Graphix die deutsche Fassung „El Taubinio“ in der Übersetzung von Harriet Fricke.

Beurteilungstext

„El Taubinio“ erzählt unnachahmlich charmant autobiographisch davon, wie die vierjährige Cece sich nach ihrer plötzlichen Ertaubung (wohl durch eine Meningitis) in ihrer neuen Hörwelt zurechtfindet. (Und Bell veranschaulicht zu Beginn der Graphic Novel in einer mehr als 20-seitigen Bilderstrecke geradezu genialisch die existenziell erschütternden Folgen der kindlichen Ertaubung.) Angesiedelt ist die Geschichte in den späten 1970er Jahren; zu dieser Zeit sind Hörgeräte noch unästhetische, klobige Instrumente, deren Verstärkereinheit als große Box um den Hals gehängt werden und die trotzdem nur annähernd den Hörverlust ausgleichen können. Dementsprechend hasst Cece ihre Hörhilfe zuerst: Nicht nur, weil die Hörgeräte eher unangenehme verstärkte Geräusche produzieren, sondern auch, weil sie sich mit der Box und den Kabeln im Ohr stigmatisiert und ausgegrenzt fühlt.
Doch sie hat Glück: Sie kommt in eine Vorschulklasse mit anderen schwerhörigen Kindern, mit denen sie sich in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden fühlt. Hier lernt sie, sich mit ihren Ohren an die lautsprachige Welt anzupassen: sie trainiert in Kombination von Lippenlesen und Hörgerät ihre Fähigkeiten, aus den akustischen Fetzen und dem nur unvollständig entzifferbaren Mundbild der Mitmenschen so gut zu verstehen, wie es nur geht. (Man merkt: gebärdensprachlicher Unterricht für schwerhörige und gehörlose Kinder ist in den USA der 1970er Jahre noch die absolute Ausnahme).
Aus der vertrauten Lebensumgebung wird Cece mit Beginn der Grundschulzeit rausgerissen, denn in ihrer Umgebung gibt es nur Regelschulen. Und so marschiert das junge Mädchen eher unmutig mit brauner Box vor der Brust und Kabeln im Ohr in ihre neue Grundschulklasse. Doch auch hier wendet sich ihr Schicksal zum Guten: Sie findet neue Freunde und entdeckt ihre „Superkraft“: Sie kann die Lehrer*innen im Lehrerzimmer belauschen und hört es lange vor den anderen, wenn die Klassenlehrerin zurückkommt. Denn zum neuen Schuljahr hat Cece ein Funkmikrofon bekommen, das sie ihren Lehrer*innen umhängt, um sie besser zu verstehen. Und da die meisten Lehrer*innen in der Pause vergessen, dass sie noch das Mikrofon tragen… kann Cece etwas, was ihre Mitschüler*innen nicht können. Kein Wunder, dass sie zum neuen Klassenliebling wird und sich in einem Akt der stolzen Selbstermächtigung „El Taubinio“, „El Deafo“ tauft. Schließlich ist sie eine fast taube Superheldin.
Dass Cece nach und nach zu sich selbst findet und ihre akustischen Besonderheiten bzw. Einschränkungen akzeptiert, zeigt sich auch in ihrem Umgang mit Freund*innen: Von den ersten Grundschulfreundinnen Laura und Ginny wendet sie sich letztendlich auch aus Selbstschutz ab, denn Laura ist unfähig, sie als selbstbestimmte, unabhängige Freundin zu akzeptieren, und Ginny reicht Cece wie ein Maskottchen als „taube Freundin“ herum, um ihren eigenen sozialen Status aufzuwerten. Wahre Freunde findet sie schließlich nach einigen Irrungen und Wirrungen in Martha und in ihrem Schwarm Mike.
Eine Kindheit mit schlechten Ohren: Das hat Potenzial für eine eher bedrückende Geschichte; bei Bell ist es eine turbulente Abenteuerreise, die den üblichen Problemen, die Kinder so für sich und miteinander haben, auch neue Perspektiven abringt. Die Lektüre ist – auch dank der wunderbaren Übersetzung durch Harriet Fricke – mitreißend, trotz seiner 250 Seiten hat man sich schnell in der Lektüre vertieft.
Die humorvolle, charmante Kindheitsgeschichte „El Taubinio“ sei allen Liebhaber*innen des graphischen Erzählens empfohlen. Und so ganz nebenbei bekommt man damit einen nahezu perfekten Einblick darin, was es eigentlich heißt, schwerhörig zu sein (und nicht taub, wie der Titel leicht irreführend nahelegt – was u.a. daran liegt, dass „deaf“ im US-amerikanischen Diskurs auch höhergradige Schwerhörigkeit mit einschließt).

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Diese Rezension wurde verfasst von Philipp Schmerheim; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 14.09.2022