Ein Lied für Blue

Autor*in
Kelly, Lynne
ISBN
978-3-96177-098-4
Übersetzer*in
Piel, Mertixell Janina
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
347
Verlag
Woow Books
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2022
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Für alle, die sich schon einmal allein gefühlt haben“ – so lautet das Motto von Lynne Kellys einfühlsamen und fast rundherum gelungenen Kinder-Jugendroman „Ein Lied für Blue“, in dem ein gehörloses Mädchen sich zusammen mit seiner trauernden Großmutter auf eine abenteuerliche Reise begibt, um einem einsamen Wal ein selbstkomponiertes Lied vorzuspielen.

Beurteilungstext

Zu Beginn von "Ein Lied für Blue" erfährt das gehörlose, zwölfjährige Mädchen Iris von dem Bartenwal Blue 55, der seit Jahrzehnten weitgehend alleine durch die Weltmeere schwimmt, weil er in einer Frequenz von 55 Hertz singt – und damit für andere Wale unverständlich ist, die in Frequenzen von 35 Hertz oder tiefer singen. Als gehörloses Mädchen an einer Schule in Texas mit fast ausschließlich hörenden Kindern identifiziert sich Iris mit Blues Lage. Zwar hat sie liebevolle hörende Eltern, einen einfühlsamen älteren Bruder und mit ihrer Großmutter und mit Wendell einen gehörlosen besten Freund – an der Schule fühlt sie sich trotzdem von ihren hörenden Mitschüler*innen und Lehrer*innen isoliert, weshalb sie entgegen der Bedenken ihrer Eltern viel lieber – so wie Wendell – die Junior High School für Gehörlose im Nachbarort besuchen möchte.
Kurzerhand komponiert Iris ein Lied für den Wal, das sie von ihrem Musiklehrer mit Instrumenten einspielen lässt, die sich auf dieser Frequenz bewegen. Dieses Lied möchte sie Blue vorspielen, damit er weiß, dass er nicht alleine ist auf dieser Welt. Dafür nimmt Iris Kontakt mit den Meeresbiolog*innen auf, die Blues Weg durch die Meere verfolgen – und macht sich kurzerhand zusammen mit ihrer ebenfalls gehörlosen Großmutter auf eine Schiffsreise nach Alaska, um bei der nächsten Kontaktaufnahme mit dem einsamen Wal dabei sein zu können. Auf dieser Schiffsreise schließt Iris nicht nur neue Freundschaften, sie kommt auch ihrer Großmutter wieder näher, die sich nach dem Tod des Großvaters in einen Kokoon der Trauer verkrochen hat.
Mit "Ein Lied für Blue" legt Lynne Kelly eine mitreißend erzählte Außenseiter-Ausreißer-Geschichte vor, der es gelingt, die Gehörlosigkeit ihrer Protagonistin zwar nuanciert zu thematisieren, sie aber zugleich in den Dienst der Geschichte zu stellen - und nicht andersherum. So verfolgen wir lesend den Alltag und die späteren Abenteuer der Ich-Erzählerin, erfahren nebenbei so manche Details über Gebärdensprache und Gehörlosenkultur, aber auch über Wale und andere Meerestiere, über die Herausforderung, alte Radios zu reparieren (denn Iris ist eine passionierte Hobby-Elektrikerin) – und über den traumatisierenden und isolierenden Effekt, den die Trauer um geliebte Menschen haben kann.
Schade ist allerdings, dass der Roman zum Ende hin in eine sehr US-amerikanisch anmutende Countdown-Dramaturgie abrutscht: Nachdem gut ein Drittel der 320 Seiten umfassenden Romanhandlung an Bord des gemütlich gen Alaska schippernden Kreuzfahrtschiffs spielen, muss Iris auf den letzten gut 40 Seiten per Zug, Bus und dann sogar zu Fuß alles daran setzen, um den Wal in letzter Sekunde in einer Bucht abzufangen und ihm das Lied vorspielen zu können. Die Dramaturgie dieser letzten Kapitel ist, so mitreißend sie auch auserzählt wird, schlicht unglaubwürdig und unnötig. Denn im Kern ist "Ein Lied für Blue" eine vielschichtige Selbstfindungsgeschichte: Der Wal fungiert für Iris als Übergangsobjekt, als Projektionsfläche, die es ihr ermöglicht, ihre eigenen Lebenswünsche nicht nur zu reflektieren, sondern auch ihren Eltern gegenüber zu vertreten. Überhaupt, Iris: Wunderbar ist, dass ihre Gehörlosigkeit an keiner Stelle als in irgendeiner Form zu überwindendes Defizit charakterisiert wird. Sie kennzeichnet vielmehr schlicht eines der vielen Charaktermerkmale des Mädchens – und ist nur da eine Barriere bzw. ein Handicap, wo die Gesellschaft oder Iris’ Mitmenschen Unwillens oder unfähig sind, sich auf ihre aus der Gehörlosigkeit erwachsenden Bedürfnisse einzulassen. Insofern zeigt "Ein Lied für Blue", wie weit „disability narratives“ mittlerweile gekommen sind: Wo in früheren Geschichten noch ‚Super-Cripples‘ heldenhaft ihre körperlichen oder geistigen Defizite zu überwinden versuchen, gar nur mit Hilfe nicht-defizitärer Helfendenfiguren überwinden können oder beim Versuch elendig zu Grunde gehen, sind Iris und auch ihre Großmutter eigenständige Figuren, denen sich die Frage nach ihrer Gehörlosigkeit als potenziellem Charakterdefizit gar nicht erst stellt.
Kurz: "Ein Lied für Blue" ist ein wunderbares Buch, das wärmstens zur Lektüre empfohlen wird – und das sich auch als Modell für Geschichten eignet, die nicht über Disability erzählen möchten, sondern von Figuren, die halt auch eine sogenannte Disability als ein Charaktermerkmal unter vielen haben.

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Diese Rezension wurde verfasst von Philipp Schmerheim; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 31.03.2023