Echt

Autor*in
Scheuring, Christoph
ISBN
978-3-7348-5001-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
256
Verlag
Magellan
Gattung
Ort
Bamberg
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Echt“ ist ein wundervoller Adoleszenzroman. Still und intensiv wird die Geschichte des Aufeinandertreffens jugendlicher Individuen mit der erwachsenen Gesellschaft erzählt. In angemessener Deutlichkeit werden dabei existenzielle Fragen nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Glück aufgeworfen, aber ohne die Zeit des Erwachsenwerdens in nihilistischer Manier als reine Leidens- und Passionszeit darzustellen. Diesem Buch gelingt es, darzustellen, dass das Leben „zärtlich und abgefuckt im selben Moment“ (113) ist.

Beurteilungstext

Albert, der Mittelschicht-Gymnasiast und Ich-Erzähler aus einem Hamburger Elbvorort, behauptet von sich selber, bisher ein „nerdmäßiges Maulwurfsleben“ (26) geführt zu haben, weil ihm einfach der Mut gefehlt hat, einmal etwas zu wagen. In seiner heilen Vorstadtwelt wächst Albert in behütetem Desinteresse auf: Sein Vater – ein Mathematiker – betrachtet die Welt in einer „vernünftig-weltfremden Weise“ und glaubt an die Vernunft im Menschen, worin die erquickende Naivität seiner Darstellung liegt.
Wenngleich als Topos für einen Jungendroman wenig überraschend, so wird das Streben nach der Welt außerhalb der eigenen Petrischale derart bezaubernd und vorsichtig entwickelt, wie es für das Motiv eines Fotos angemessen ist. Alberts größte Leidenschaft gilt nämlich dem Fotografieren von Abschieden, in denen er meint, perfekte und intensive Momente einfangen zu können – Situationen, in denen die Menschen keine Emotionen vortäuschen und sich nur verhielten: „echte“ Momente eben. Und zu diesem Zwecke verbringt er seine Freizeit am Hamburger Hauptbahnhof, einem Ort, an dem er das Perfekte im Unperfekten abzulichten hofft, um darin das wirkliche Leben zu finden. Dass man das wirkliche Leben aber nicht in Bildern, sondern in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben findet, darin Entscheidungen zu treffen und Willen und Mut zu zeigen, dieser Entwicklungs- und Erkenntnisprozess eines Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft ist von Christoph Scheuring in einer wunderbaren Amalgamierung von Klarheit, Schönheit und Echtheit inszeniert.

Gleichsam in einer motivischen Doppelhelix wird die Liebesgeschichte zwischen Albert und Kati mit einer Suche nach der Wahrheit hinter einem Foto versponnen: Kati scheint sich zuerst nur für eines von Alberts Fotos zu interessieren, das sie als Lüge bezeichnet. Albert hingegen fühlt sich von der nachlässigen Gleichheit und der brutalen Schönheit Katis angezogen sowie von dem Vorwurf der Lüge gegen sein schönstes Foto herausgefordert. Entwickelt sich der Foto-Helixstrang zu einer bohrenden Suche nach dem ‚Warum?’ und nach Antworten, die schließlich in einer erstaunlichen Reaktion münden, so hat der Helixstrang der Liebe eine Katalysatorwirkung nicht nur für Albert, sondern auch für den Leser. Nicht dass Kati und Albert wie Säure und Base wären, aber sie bringen doch sehr unterschiedliche Ladungen mit: Kati nämlich lebt auf der Straße bzw. heimlich in einem Boot und sie kennt die anderen Seiten, Ecken und Orte der Stadt, die Albert bisher unbekannt sind. Vielmehr aber noch zeigt ihm die Beziehung zu Kati und die Bekanntschaft mit den Jugendlichen aus dem Drogen- und Prostitutionsmilieu eine Wahrhaftigkeit, die er bisher vergeblich gesucht hat. Und die Darstellung dieses Milieus glückt Scheuring in journalistischer Manier als authentische Darstellung, ohne wertende Störung. Was aber besonders positiv heraussticht, ist, dass diesen Randphänomenen der Gesellschaft persönliche Wärme, Aufmerksamkeit und Verantwortungsgefühl zugestanden wird. Ganz anders als in anderen Adoleszenzromanen führt das Sich-Einlassen des Protagonisten auf die gesellschaftlich geächteten Subkulturen nicht zum Scheitern der Enkulturation in die Erwachsenenwelt. Dadurch dass die Bekanntschaft nicht als Bruch inszeniert wird, sondern für Albert und den Leser ein Lackmuspapier für die Wahrhaftigkeit ist, die dem gesellschaftlichen Mainstream verloren zu gehen droht, empfängt sie eine Aufwertung, die die Nähe von Glück und Verzweiflung sowie Liebe und Hass als das echte Leben hervorhebt.
Was das Buch aber für jeden Leser ab 14 Jahren zu einem Erlebnis zu machen verspricht – wofür nicht zuletzt die Nominierung durch die Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises spricht – sind die gleichsam mit der Pipette hingetropften Reflexionen, die niemals rechthaberisch oder belehrende Injektionen sind, sondern anregende Impulse: „’Ist dir schon einmal aufgefallen, dass du nie einsam bist, wenn du irgendwo oben stehst? […] Einsam und klein fühlst du dich immer nur unten.’ […] ‚Dafür kannst du aber auch runterfallen.’ ‚Genau, entweder du fühlst dich mickrig und einsam, oder du kannst abstürzen […]. Etwas anderes gibt es im Leben nicht. Zwischen den beiden Zuständen musst du wählen.’“ Und die Ahnung, dass die Liebe einer der höchsten Berge ist, stellt sich beim Lesen dann in einer Mischung von Angst und Verlangen ein.
So glaubhaft die Figuren sind – mit Ausnahme der Figuren aus der Medienwelt, die in einer Art überzogen sind, dass sie karikaturesk aus dem Bild fallen –, so überzeugend ist die Einsicht von Albert, dass Fotos eine Wahrheit schaffen, sie aber letztlich nicht abbilden können. Wahr ist einzig das Leben, dem man sich stellen muss. Und auch wenn die Untersuchung von Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Glück im Adoleszenzroman als Drosophila bezeichnet werden kann, so ist der von Scheuring gewählte Untersuchungsaufbau ein echtes Experiment, dessen Ausgang einen Knalleffekt von bestechender Echtheit beschreibt, der darin besteht, dass Scheuring sich nicht zu kitschigen oder verstörenden Extrema hinreißen lässt.
Dieser Roman ist ein literarisches Untersuchungsfeld, in dem die Chemie stimmt, ohne dass oder gerade weil nicht mit dem jugendliterarischen Chemiebaukasten gespielt wurde.
(Jochen Heins,AJuM Hamburg)

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 29.03.2015

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