Dunkles Schweigen

Autor*in
Blobel, Brigitte
ISBN
978-3-570-40162-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
247
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2013
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
7,99 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Nach dem Tod seines Vaters kommt der zwölfjährige Benni auf ein Internat. Dort wird er von seinem Kunstlehrer sexuell missbraucht. Benni behält die Geschehnisse für sich und leidet stumm, bis sich ihm einige Jahre später bei einem Sommerfest seiner ehemaligen Schule ein weiterer Betroffener anvertraut und ihn überreden kann, den Lehrer bei der Polizei anzuzeigen.

Beurteilungstext

Der Titel des Buches, die vorangestellte Widmung sowie die lange Liste von Beratungsstellen im Anhang machen das Anliegen der Autorin sehr deutlich: die Opfer von sexuellem Missbrauch sollen nicht länger schweigen, sondern an die Öffentlichkeit gehen und die Täter anzeigen.

Der Roman wird auf zwei zeitlichen Ebenen erzählt: einmal in Rückblenden auf Bennis Internatszeit (diese Passagen stehen verblüffenderweise im Präsens), zum anderen durch die Beschreibung von Lilliths Besuch bei Ben rund vier Jahre später (Imperfekt). Wie eine Klammer fungieren die Dialoge mit dem Therapeuten am Anfang und am Ende des Buches. Bei durchgehend auktorialer Erzählperspektive ist Ben eindeutig die Hauptfigur: Der Leser erhält einen Einblick in seine Gedanken und Empfindungen.

Benni hat seinen Vater sehr geliebt. Als dieser bei einem Autounfall ums Leben kommt, fühlt die Mutter sich als Alleinerziehende überfordert und versinkt in Depressionen. Sie meldet den Zwölfjährigen auf einem Internat an und begibt sich selbst in ein Sanatorium, wo sie über Monate hinweg behandelt wird.

Benni integriert sich gut an der neuen Schule. Mit seinen Zimmergenossen versteht er sich auf Anhieb, schulische Probleme gibt es nicht. Seinen Kunstlehrer Tilman Fröhlich bewundert er wegen seiner lässigen Eleganz. Als Benni an einem rätselhaften Fieber erkrankt, wird er nach einigen Tagen von der Krankenstation entlassen und in die Obhut des Kunstlehrers übergeben. Dieser nutzt die Gelegenheit, sich dem Jungen sexuell zu nähern.

Benni ist verwirrt und angeekelt, wehrt sich jedoch nicht. Für einen Zwölfjährigen ist er sehr naiv; es scheint, als habe er seine eigene Sexualität noch gar nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn sich dafür interessiert. Wie es das Klischee erfordert, nimmt sein Lehrer ihm das Versprechen ab, ihr ""Geheimnis"" für sich zu behalten. Obwohl er keinerlei Druck ausübt, hält Benni sich daran. Seine Mutter ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und er findet nicht den richtigen Augenblick, sich ihr anzuvertrauen. Seinen Altersgenossen gegenüber empfindet er Scham. Andere Lehrer oder erwachsene Bezugspersonen werden nicht erwähnt.

Benni bleibt nur knapp zwei Jahre auf dem Internat, dann kehrt er wieder in seine Heimatstadt Leipzig zurück und geht dort aufs Gymnasium. Als Sechzehnjähriger bekommt er Besuch von Lillith, einer ehemaligen Mitschülerin. Sie überbringt Ben und seiner Mutter die Einladung zu einem Sommerfest des Internats, wo er seinem Lehrer wiederbegegnet - und einem weiteren Mitschüler, der sich ebenfalls als Missbrauchsopfer zu erkennen gibt. Dominik überredet Ben, noch am selben Abend gemeinsam zur Polizei zu gehen und Fröhlich anzuzeigen. Der Lehrer wird verhaftet, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und mit Berufsverbot belegt.

Von Bens psychischer Belastung durch den sexuellen Missbrauch erfährt man nur wenig: dass er nicht reden will, dass er sich nicht auf enge Beziehungen zu anderen einlassen kann, dass er nicht mehr malt (sein einstmals größtes Talent). Im Großen und Ganzen stellt er sich in einer Verweigerungshaltung dar, wie sie für Sechzehnjährige - auch ohne traumatische Erlebnisse - nicht unüblich ist. Abgesehen davon erfährt der Leser nichts über die Folgen des Missbrauchs. An keiner Stelle ist von den in solchen Fällen sehr typischen Selbstvorwürfen die Rede, ebenso wenig von gescheiterten Liebesbeziehungen, von Konzentrationsschwächen und den damit verbundenen schulischen Minderleistungen, von Aggressionen oder von sexuellen Auffälligkeiten.

Das Verhalten seiner Mutter pendelt zwischen Euphorie, Hysterie, Schuldgefühlen, Überbehütung und Desinteresse. Sie bleibt gesichtslos, ihre Reaktionen folgen keiner psychologischen Schlüssigkeit, ihre Motive bleiben unklar. Das Verhältnis zu ihrem Sohn ist größtenteils distanziert, stellenweise auch sehr emotional.

Lillith geht überraschend offensiv und selbstbewusst auf Ben zu. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie in ihn verliebt ist, obwohl die beiden sich als Dreizehnjährige zuletzt gesehen haben (und die Autorin mehrmals darauf hinweist, dass ein Jahr für Jugendliche mehr als eine Ewigkeit ist). Warum sie ausgerechnet jetzt und ohne Ankündigung bei ihm in Leipzig auftaucht, bleibt ungewiss. Trotz ihrer Souveränität zieht sie sich überraschend immer wieder in eine schmollende Kleinmädchen-Position zurück oder schwadroniert pubertär-naiv über die ""geile Großstadt"". Erstaunlich ist auch, dass Lillith - eine der Hauptfiguren des Buches - letztlich gar keinen Einfluss darauf hat, dass Ben sich seiner Vergangenheit stellt.

Etliche logische Schwächen erschweren es dem Leser zusätzlich, in die Atmosphäre des Romans hineinzufinden. Der als überzeugter Vegetarier eingeführte Ben verspeist schon ein paar Seiten weiter mit Genuss Scampi, Lillith kommt an einem Freitag zu Besuch, woraufhin die beiden Jugendlichen einen gemeinsamen Samstagabend in der Disco verbringen, auf der Festplatte des Lehrers werden selbst gemachte pornografische Fotos aus den Neunzigern gefunden (als nur eingefleischte Spezialisten über Digitalkameras verfügten), die behauptete finanzielle Unabhängigkeit von Bens Familie wird konterkariert durch die Wohnsituation (ein Stockwerk weiter oben wohnt eine lärmige, vierköpfige Familie) und das Fahrzeug der Mutter (ein schlichter VW Golf).

Dazu passt, dass Bens Vater abwechselnd mit Papa und Dad, seine Mutter wahlweise mit Mama, Mami oder Mom angeredet wird und dass auch Ben selbst immer wieder mal zum Benni wird - keineswegs nur in den rückblickenden Passagen, in denen er noch zwölf oder dreizehn Jahre alt ist. Von seinem Kunstlehrer dagegen wird er vorwiegend als ""Cherubin"" bezeichnet - ein Wort, das es gar nicht gibt (korrekt müsste es ""Cherub"" heißen) und das ein Intellektueller wie Fröhlich sicher nicht benutzen würde.

Unklar bleibt auch die Rolle Dominiks, jenes Internatsschülers, der schon vor Ben zu Fröhlichs Opfer geworden war. Er ist es, der Ben zu dem Sommerfest einlädt, ihn dort mit der Tatsache ihres gemeinsamen Schicksals konfrontiert und zur Anzeige bei der Polizei überredet. Dominik hat seine Situation offenbar sehr viel intensiver reflektiert als Ben, nennt die Dinge deutlich beim Namen und warnt auch davor, dass es schwer werden kann, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch warum verlässt er sich in einer so wichtigen Angelegenheit auf den Zufall, dass Ben seiner Einladung folgt? Warum macht er ausgerechnet ihn zu seinem Verbündeten und keins der weiteren Missbrauchsopfer, von denen er nach eigener Aussage weiß? Dominik wird auf den letzten Seiten des Romans zu einem Deus ex Machina, dem mit wenigen Worten das gelingt, woran der Therapeut, Bens Mutter und Lillith zuvor gescheitert sind.

""Dunkles Schweigen"" ist in einer klaren, präzisen und gut verständlichen Sprache geschrieben, die jugendliche Leser weder unter- noch überfordert. Die Aufteilung in zwei Zeitebenen ist übersichtlich und an keiner Stelle verwirrend. Die Kapitel sind nicht zu lang und zusätzlich in Absätze unterteilt, so dass man das Buch zwischendurch auch mal aus der Hand legen kann, ohne den Faden zu verlieren.

Bedauerlich fand ich, dass Blobel nirgends auch nur das geringste bisschen Humor durchblitzen lässt. Auch bei einem durchaus ernsten Thema wie sexuellem Missbrauch hätte die eine oder andere witzige Dialogpassage sicher keinen Schaden angerichtet. Apropos Dialoge: Trotz sichtlicher Bemühungen wird die Sprache Jugendlicher hier nicht immer ganz authentisch wiedergegeben. Bemerkungen wie ""Ich bin blau"" oder Lilliths peinliche Eloge ""Leipzig boomt, Leipzig swingt, Leipzig groovt. Komm, los, wir grooven mit!"" würde wohl kein(e) Sechzehnjährige(r) ernstlich über die Lippen bringen, ebenso wenig wie er oder sie ein gutes Essen als ""himmlisch"" bezeichnen würde.

Es ist mit Sicherheit wichtig und richtig, dass die Opfer von sexuellem Missbrauch sich anderen anvertrauen und sich zur Wehr setzen. Leider bietet Ben nur wenig Identifikationsmöglichkeiten, weil er zu blass und zu gesichtlos bleibt. Seine Geschichte, in der eine Reihe von Klischees bemüht wird, macht nicht deutlich genug, wie missbrauchte Kinder leiden und welche Optionen ihnen offenstehen. Die Lösung kommt in diesem Roman von außen und ist keine Hilfe für all jene, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und nicht wissen, wie sie sich von ihrem quälenden Geheimnis befreien können. Damit erfüllt ""Dunkles Schweigen"" leider nicht seine so offenkundige Intention.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von JW.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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